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„Auf keinem Auge blind“

Tilman Zülch setzte sich 1968 das Ziel, weltweit die Rechte von Minderheiten zu schützen. Er gründete die Gesellschaft für bedrohte Völker. Sie erhielt viel Lob, aber auch manche Kritik

Von Reimar Paul

GÖTTINGEN – In Ostnigeria, das sich als Republik Biafra für unabhängig erklärt hat, tobt 1968 ein blutiger Bürgerkrieg. Hunderttausende Menschen sterben durch Bomben, an Hunger und Krankheiten. Die Weltöffentlichkeit wird durch Fernsehbilder von Kindern mit aufgeblähten Bäuchen aufgeschreckt. Weil Großbritannien das nigerianische Militär mit Waffen beliefert, besetzen Ende Juni 1968 Mitglieder des Komitees „Aktion Biafra Hilfe“ das britische Generalkonsulat in Hamburg.
Mit dabei ist Tilman Zülch, Student der Volkswirtschaft und Politik. Die Besetzung habe den britischen Botschafter mehr geschockt „als das Sterben im Hungerkessel von Biafra“, erinnert sich der heute 78-Jährige an die damalige Aktion. Zülch baut das Biafra-Komitee in der Folgezeit zur Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) aus: Einer Organisation mit dem Anspruch, weltweit Menschenrechte von ethnischen und religiösen Minderheiten zu schützen und durchzusetzen.

Entstanden aus einer „Ein-Mann-Initiative“

Unterstützt von einer Handvoll ehrenamtlicher Helfer, bleibt Zülch zehn Jahre lang der einzige Vollzeit-Aktivist. Mit wenig Geld prangert er in Flugblättern Gräueltaten in Afrika und Asien an. Heute werden professionell Kampagnen organisiert. In der Göttinger Geschäftsstelle sind rund zwei Dutzend Frauen und Männer beschäftigt.
Rund 6000 Förderer und Mitglieder unterstützen die Gesellschaft durch Beiträge und Spenden. 2016 betrugen die Gesamteinnahmen knapp 1,3 Millionen Euro. Es gibt Regionalgruppen in 15 deutschen Städten, darunter Münster und Bielefeld, sowie Sektionen etwa in der Schweiz, in Italien und in Bosnien-Herzegowina .
Mit spektakulären Aktionen schaffen es die Menschenrechtler um Zülch immer wieder in die Schlagzeilen: 1988 etwa decken sie die Mitverantwortung deutscher Firmen beim Giftgaseinsatz gegen Kurden im Irak auf. 1992, im sogenannten Kolumbus-Jahr, überqueren zwei Aktivisten den Atlantik mit einem Bambusfloß, um den südamerikanischen Indianern eine Versöhnungsbotschaft zu überbringen.
Und 1995, vor der Hinrichtung des nigerianischen Bürgerrechtlers Ken Saro-Wiwa im Ölfördergebiet, demonstriert die GfbV vor der Shell-Zentrale in Hamburg mit Galgen-Attrappen. Unter dem Motto „Auf keinem Auge blind“ setzt sich die Menschenrechtsorganisation für Völkermordopfer im Sudan und muslimische Uiguren in China, für bedrängte Christen in Pakistan und für Kurden in der Türkei ein.
Immer wieder muss die GfbV jedoch auch Kritik einstecken. Als sie Indianer aus Nicaragua nach Europa einlädt, die gemeinsam mit „Contras“ die sandinistische Befreiungsfront FSLN bekämpfen, protestieren Dritte-Welt-Gruppen. Im Jugoslawien-Krieg werfen Friedensinitiativen der Gesellschaft ein einseitiges und polarisierendes Engagement vor – frühzeitig habe sie die Serben als Alleinschuldige gebrandmarkt und Militärschläge der Nato zugunsten der bosnischen Muslime und Kosovo-Albaner gefordert.
Tilman Zülch erhielt für sein Engagement etliche Preise – darunter den Göttinger Friedenspreis, den Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma und das Bundesverdienstkreuz. Intern beklagten Mitarbeiter und ehrenamtliche Vorstandsmitglieder gelegentlich ein autoritäres Regiment des Generalsekretärs. Im Jahr 2012 eskalierte ein Streit um Finanzen in Strafanzeigen und endete mit dem Ausschluss von zwei Vorständen durch die Mitgliederversammlung, das höchste Organ der GfbV.
Im Frühjahr 2017 gab Zülch die Leitung an den Afrika- und Asien-
experten der GfbV, Ulrich Delius, ab. Wie aktuell und notwendig Menschenrechtsarbeit auch heute sei, zeigt für Delius die Vertreibung von 700 000 Rohingya aus Myanmar. Offiziell feiern will die Gesellschaft für bedrohte Völker ihr 50-jähriges Bestehen Anfang Oktober in Göttingen.