Die Armenier verstehen sich als älteste christliche Nation der Welt. In der Tat nahm im frühen 4. Jahrhundert Trdat III., Herrscher des am Ostrand des Römischen Reichs gelegenen Königreichs Armenien, im Zuge der Konstantinischen Wende das Christentum an. Bis zur Schaffung eines christlichen Großreichs in Mitteleuropa unter Karl dem Großen dauerte es fast ein halbes Jahrtausend. Der armenische Nationalstaat in seinen heutigen Grenzen geht auf die Ende 1920 geschaffene Sowjetrepublik Armenien zurück, unabhängig ist das Land seit 1991.
Die große Katastrophe
Das Trauma der armenischen Nation ist die große Katastrophe (armenisch: aghet), der Völkermord von 1915. Bereits zuvor waren bei Pogromen Zehntausende Armenier im Osmanischen Reich ermordet worden. Die Massaker, Todesmärsche und Deportationen, die die jungtürkische Regierung anfachte und organisierte, löschten nahezu das gesamte armenische Leben in Kleinasien aus. Etwa eine Million Menschen wurden zwischen 1915 und 1918 ermordet, Hunderttausende vertrieben, Zehntausende Frauen und Kinder entführt und zwangsturkisiert. Die Vertriebenen vergrößerten die weltweite armenische Diaspora, der heute rund 7,5 Millionen Menschen angehören, darunter eine Million in Russland und circa 450000 in den USA.
Zuflucht der Überlebenden im Kaukasus
Rund 300.000 Armenier fanden Zuflucht in dem südlich des Kleinen Kaukasus gelegenen Hochland um den Sewansee, wo eine gemischte, teils armenische Bevölkerung siedelte. Diese Gegend hatte seit 1828 zum Russischen Reich gehört. Als dieses 1917 zusammenbrach und überall an seinen Rändern Nationalstaaten ausgerufen wurden, proklamierten im Februar 1918 Vertreter der armenischen, aserbaidschanischen und georgischen Nationalbewegungen gemeinsam eine Transkaukasische Föderative Sowjetrepublik. Schon Ende Mai 1918 beschloss jedoch die georgische Nationalversammlung die Gründung eines eigenen Staats, Aserbaidschan folgte und am 28. Mai wurde in Jerewan die Demokratische Republik Armenien ausgerufen. Diese hatte kaum Chancen auf Bestand: Nahezu das gesamte Staatsgebiet wurde zugleich von den Nachbarstaaten beansprucht.
Lenins armenische Verbündete übernahmen im Dezember 1920 die Macht in Jerewan und riefen eine Armenische Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) aus. Diese führten sie Ende 1922 in die Sowjetunion. Nicht beseitigt waren jedoch die nationalen Konflikte zwischen der christlich-armenischen Bevölkerung und den turksprachig-schiitischen Aserbaidschanern. Um die wechselseitigen Ansprüche auszugleichen – und eigenen Einfluss zu wahren – schlugen die Bolschewiki die an der Grenze zur Türkei liegende Region Nachitschewan als Exklave der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu. Im gebirgigen Teil der gemischt-besiedelten Region Karabach am Ostrand des armenischen Hochlands schufen sie eine mehrheitlich armenisch besiedelte Autonome Sowjetrepublik innerhalb Aserbaidschans ohne Landverbindung zur Armenischen SSR.
Besonderheit von Berg Karabach
Andere Teile der historischen Region Karabach wurden der Aserbaidschanischen SSR unterstellt. Nur die gemischtbesiedelte Region Sangesur an der Grenze zum Iran wurde Teil der Armenischen SSR. Neben einer wirtschaftlichen Erholung Mitte der 1920er Jahre und der Förderung nationaler Kultur, standen rücksichtslose Enteignungen und die brutale Kirchenverfolgung durch die Bolschewiki. 1928 wurden die Kirchengebäude des „armenischen Vatikan“ in Etschmiadsin enteignet. Während des stalinistischen Terrors 1937/38 wurde das Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Katholikos Choren I., wahrscheinlich von Schergen der politischen Polizei ermordet und das Katholikat von Etschmiadsin zwangsaufgelöst. Dutzende Priester wurden hingerichtet, Zehntausende Armenier umgebracht oder in sibirische Lager deportiert.
Das Ende der Sowjetunion
Erst das Chruschtschowsche Tauwetter brachte ab 1956 einige politische Freiheiten. Weitgehend unterdrückt blieb jedoch das Gedenken an den Völkermord. Am 50. Jahrestag des Beginns des Genozids kamen trotz Verbots 100000 Menschen auf dem Opernplatz von Jerewan zusammen, um eine Anerkennung der Verbrechen zu fordern. Um die Stimmung zu beschwichtigen, genehmigten die sowjetischen Behörden den Bau eines Denkmals auf einem Hügel bei Jerewan, das erst in den 1990er Jahren um ein Museum ergänzt wurde.
Mit der Lockerung der Zensur und der Repressionen unter Gorbatschow tauchten die Bestrebungen nach Unabhängigkeit und die Karabach-Frage wieder auf. 1992 eskalierte der Streit zu einem Krieg um Karabach zwischen armenischen und aserbaidschanischen Truppen, der 30000 Menschenleben kostete. Im Mai 1994 wurde er mit einem Waffenstillstandsabkommen eingefroren. Nach den Pogromen in Sumgait (1988) und Baku (1990) waren sämtliche Armenier aus Aserbaidschan und Nachitschewan geflohen. Ebenso war die aserbaidschanische Bevölkerung aus Armenien geflüchtet und aus Bergkarabach sowie aus umliegenden, von karabach-armenischen Truppen besetzten Gebieten vertrieben worden.
Blutiger Auflösungskrieg
Der Waffengang um Bergkarabach war der blutigste der spät- und postsowjetischen Auflösungskriege und überschattete die staatliche Unabhängigkeit, die Armenien 1991 ausrief. Auf den ersten Blick hatten die Republik Arzach, wie die Karabach-Armenier ihren De-facto-Staat nannten, und die Republik Armenien mit Hilfe Russlands einen Sieg errungen. Doch dieser war eine schwere Bürde. Die mit Aserbaidschan verbündete Türkei schloss 1993 die Grenzen. Damit war Armenien, verkehrsmäßig in ungünstiger Lage in bergiger Region ohne Meerzugang, von einer wichtigen Route nach Westen abgeschlossen.

An einer Lösung hatte Moskau kein echtes Interesse. Formal waren das armenische Bergkarabach und die Republik Armenien getrennte Einheiten. Jerewan hat die Republik Arzach nie anerkannt. 25 Jahre lang hatten sich die auch international nicht anerkannte Republik Arzach und die Republik Armenien Zugeständnissen an Aserbaidschan verweigert und auf Russland als Sicherheitsgaranten verlassen. Nun lockerte Moskau das Bündnis.
Den ersten Schlag führte Aserbaidschan im Herbst 2020. Jetzt aber startete die mit modernen Waffen ausgerüstete, von der Türkei unterstützte aserbaidschanische Armee einen Großangriff auf Bergkarabach. Nach sechs Wochen stand sie kurz vor dem Sieg. Noch einmal setzte sich Russland ein und brachte beide Seiten zur Unterzeichnung eines Waffenstillstands. Armenien musste den Verlust der an Karabach angrenzenden besetzten Gebiete und eines Teils der Republik Arzach anerkennen. Auf dem verbliebenen Territorium stationierte Moskau „Friedenstruppen“.
Doch nur ein Jahr später bereitete Aserbaidschan den zweiten Schlag vor. Nicht nur beschossen Bakus Truppen grenznahe Orte auf dem Gebiet der Republik Armenien. Im Dezember 2021 unterbrach Aserbaidschan die einzige von Armenien nach Bergkarabach führende Straße durch den sogenannten Latschin-Korridor, um die dortige armenische Bevölkerung auszuhungern. Russland ließ Baku gewähren, die in Bergkarabach stationierten Truppen taten nichts zur Aufhebung der Blockade. Und der armenische Präsident Nikol Paschinjan wusste, dass ein militärisches Eingreifen zu einer Katastrophe führen würde. Daher wandte er sich mit Hilfegesuchen an die internationale Gemeinschaft, die jedoch nur mit Appellen an Aserbaidschan reagierte.
Dies erlaubte es Baku, im Schatten von Russlands Krieg gegen die Ukraine im September 2023 den letzten Schlag zu führen. Während in New York die UNO-Vollversammlung tagte, griff die aserbaidschanische Armee die Republik Arzach an.
Armenier in Berg Karabach vertrieben
Nach nur einem Tag mussten die Behörden des De-facto-Staats kapitulieren. Augenblicklich öffnete Aserbaidschan den zuvor neun Monate geschlossen gehaltenen Korridor und das Erwartbare trat ein: Die gesamte Bevölkerung Karabachs, über 100000 von der Blockade ausgezehrte, durch jahrelange Drohungen verängstigte Menschen flohen in wenigen Tagen aus ihrer Heimat.
Für Armenien bedeutet der Untergang Arzachs eine weitere nationale Katastrophe. Über 1500 Jahre armenischen Lebens in Bergkarabach gingen zu Ende. Auf Armenien und die internationale Gemeinschaft kommen riesige Aufgaben zu. Die Geflüchteten sind zu versorgen und zu integrieren, die Kulturgüter – Kirchen und Friedhöfe – in Karabach vor der Zerstörung zu schützen. Vor allem aber ist Armenien vor dem weiter aggressiven Gebaren Aserbaidschans zu schützen, das bereits neue Territorialforderungen erhoben hat.
Am Sonntag Reminiszere bittet die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) darum, an die verfolgten und gedemütigten Menschen in Armenien in Fürbitte und praktischer Hilfe zu erinnern.
Dr. Volker Weichsel studierte Politikwissenschaft und Slavistik in Mannheim und Kiew; er wurde mit einer Arbeit über nationalpolitische Traditionen und europapolitische Konzepte in der Tschechischen Republik promoviert.