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Arbeiten am ewigen Werk

Eigentlich lebte und arbeitete er in Freiburg, Soest war ihm unbekannt. Eine Stellenausschreibung sprach ihn an und Jürgen Prigl erlag dem „Virus Wiesenkirche“. Seit 25 Jahren ist er nun Dombaumeister der Westfälischen Kathedrale

Dieser Text muss mit einem ebenso ernst gemeinten wie eindringlichen Warnhinweis versehen werden: Sollten Sie, liebe Leser, jemals das Vergnügen haben, Jürgen Prigl persönlich zu begegnen, so seien Sie gewarnt; er wird Sie infizieren. Infizieren mit dem „Virus Wiesenkirche“, gegen das es bisher kein wirksames Gegenmittel gibt.
Die Liste der Infizierten ist lang, prominent und kann an dieser Stelle nicht einmal im Ansatz den Anspruch auf Vollständigkeit erheben: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Johannes Rau (†), die NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, Peer Steinbrück, Hannelore Kraft, Armin Laschet oder Außenminister Sigmar Gabriel. Sie alle hat „Menschenfänger Prigl“ mit seiner unnachahmlichen Art für den Dienst der guten Sache angesteckt: Restaurierung und Erhalt der Wiesenkirche als das wohl bedeutendste Bauwerk in der evangelischen Kirchenlandschaft.
Dombaumeister Prigl selbst ist seit 25 Jahren von besagtem Virus infiziert. Eher durch Zufall hat er 1992 in einer Fachzeitschrift die Stellenausschreibung des Landes NRW gelesen, mit der man einen Leiter für eine neu zu gründende Dombauhütte in Soest suchte. Soest? Das kam in der Lebensplanung von Prigl nicht vor. Er wusste nicht einmal genau, wo das lag. „Bis dahin war ich ja noch nie über die Mainlinie gefahren.“
Aufgewachsen im beschaulichen Dahenfeld bei Neckarsulm war die Region um Freiburg seine Heimat geworden. Hier hatte der damals 31-Jährige ein eigenes Atelier und konnte von seiner Arbeit leben. „In der Ausschreibung war irgendetwas, das mich angefackelt hat.“
Also hat er sich ins Auto gesetzt und ist die über 500 Kilometer nach Soest gefahren. Als er an der Ausfahrt Möhnesee von der Autobahn gefahren ist und die Stadt mit ihren sieben mittelalterlichen Kirchen im Frühlingsdunst sichtbar wurde, war es um ihn geschehen: „Das war schon ein ganz besonderer Anblick.“

Prigl war „hin und weg“, als er die Kirche erstmals betrat

Vollends gepackt hat es ihn dann, als er die Kirche St. Maria zur Wiese betreten hat. „Die Wirkung dieses Kirchenraumes auf mich war atemberaubend“, erinnert er sich. „Die Weite, die Helligkeit, das faszinierende Spiel der Farben und des Lichts der Glasfenster mit dem grünen Stein – dem kann man sich nicht entziehen. Ich war hin und weg.“
Dass er mit vergleichsweise jungen Jahren eine historische Aufgabe übernehmen und der erst dritte Leiter einer Dombauhütte in der damals schon fast 700-jährigen Geschichte der Wiesenkirche sein würde, hat dazu beigetragen, dass er nach der Rückkehr nach Freiburg nicht mehr lange überlegen musste, um die Stelle anzutreten. Er sagte dem eigens für die Restaurierung gegründeten Westfälischen Dombauverein zu, die reizvolle Aufgabe zu übernehmen.
Da wusste er allerdings noch nicht, dass er sich einer wahren Herkulesaufgabe und oftmals kräftezehrenden Sisyphusarbeit stellen würde, die ihn nunmehr 25 Jahre und damit den weitaus größten Teil seines Berufslebens voll gefordert haben – mitunter bis über die Grenzen hinaus. „Die Zeiten waren oft hart“, blickt Prigl zurück. Beinahe täglich wurde das unfassbare Ausmaß der Zerstörungen am Stein sichtbarer. Wie Karies haben Umwelt- und Witterungseinflüsse gewirkt.  
„Das verwendete Material ist einfach nicht besonders gut geeignet“, erklärt der Fachmann. „Der Soester Grünsandstein wird den speziellen Anforderungen an den gotischen Baustil mit seinem vielen Zierrat nicht gerecht. Das überfordert das Material und seine Elastizitätseigenschaften.“ Die verheerende Folge: Der Stein reißt lotrecht durch.
Rasch wird ihm klar, dass die bisherigen Etatansätze und Arbeitsweisen der seit 1987 bestehenden Baumaßnahme für das bevorstehende Mammutwerk nicht ausreichen werden. „Damit hätten wir zunehmend auf der Stelle getreten.“ Also beginnt der Schwabe das Rad zu drehen, holt die große Politik aus Düsseldorf und Berlin ins Boot und begeistert einen nach dem anderen. Die Gründung einer Meisterschule von europäischem Rang hebt die Arbeiten ab 1998 auf die nächste Stufe.

22 Millionen Euro wurden in seiner Zeit investiert

Bezeichnend seine Begegnung 1999 mit dem damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement. Den lädt er nach einer SPD-Veranstaltung im Rathaus kurzerhand zu einem Besuch der Wiesenkirche ein. Zweieinhalb Stunden lang referiert Prigl über dieses außergewöhnliche Gotteshaus. Der Ministerpräsident hört aufmerksam zu – und ist infiziert. Am Ende des Gesprächs schauen sich zwei gestandene Männer tief in die Augen und schließen unausgesprochen einen Vertrag: „Du restaurierst mir diese Kirche und ich sorge dafür, dass die Finanzierung stimmt.“
Knapp 22 Millionen Euro sind seitdem in die Wiederherstellung und den Erhalt der 81 Meter hohen Doppeltürme investiert worden. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Immerhin: Im vergangenen Jahr ist das Gerüst am Südturm abgebaut worden. In einer spektakulären Aktion wurde der letzte Stein mit Hilfe eines Helikopters gesetzt.
Wann ein Helikopter den letzten Stein am Nordturm setzen wird? Prigl zuckt mit den Achseln: „Inzwischen ist der Etat wieder zurückgefahren worden. Vielleicht schaffen wir es trotzdem zwischen 2023 bis 2025.“ Ob er bis dahin noch die Verantwortung tragen wird, lässt er offen. „Ich arbeite jetzt bald seit 40 Jahren. Ich weiß nicht, ob ich das hier vollenden kann.“
Ohnehin geht es längst nicht mehr nur um die Turmsanierung. Aktuell stehen die wertvollen Fenster im Mittelpunkt. Über 800 000 Euro kostet deren Sanierung, die bis 2019 abgeschlossen sein wird. „Es gibt nichts Schöneres und Wertvolleres als die Fenster dieser Choranlage. Das ist einzigartig. Damit gehört unsere Kirche ganz nach oben in der europäischen Kathedralenszene.“
Doch damit nicht genug: Das Schieferdach weist ebenfalls starke Schäden auf und auch an den Streberpfeilern tauchen neue Probleme auf. „Fertig?“, fragt Prigl daher, „was heißt bei solch einem Bauwerk schon fertig? Wird der Kölner Dom jemals fertig?“
Aber wer ihn kennt, weiß, dass es immer dieser Ehrgeiz zur Perfektion ist, der ihn stets angetrieben hat. Dass er diese Aufgabe vor der endgültigen Turm-Fertigstellung beenden wird, erscheint daher unwahrscheinlich; viel zu eng ist er inzwischen mit dem Bauwerk und auch mit Soest verwachsen.
Und da ist noch etwas, das ihn immer wieder angetrieben hat: „Diese Arbeit ist ein Prozess, der nicht nur im Diesseits stattfindet. Wenn du an solch einem Gemäuer arbeitest, merkst du schon, dass du nur ein Teil einer Kette bist. Man spürt, dass das Höhere seine Hände im Spiel hat. Es ist halt ein Werk zu Ehren Gottes.“