Kann die gegenwärtige religiöse Vielfalt positiv gesehen werden, ohne auf Kosten des eigenen Glaubens zu gehen? Danach fragt der kürzlich vorgelegte EKD-Text „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“ und will „eine evangelische Perspektive zur Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen eröffnen“ (siehe auch UK 26, Seite 4). Es geht also um einen Mittelweg zwischen Abkapselung gegen andere Religionen und bloßer Relativierung aller Wahrheitsansprüche.
Gottes Reich mitten in den Zweideutigkeiten
Als zentrale evangelische Perspektive stellt der Text die christliche Freiheit heraus: Christlicher Glaube mache frei – und das sei etwas anderes als christlich-theologisches Recht-Behalten! Gott richte sein Reich mitten in unseren Zweideutigkeiten auf. Daher dürfe christliche Wahrheitserkenntnis nicht mit einer abgeschlossenen Einsicht verwechselt werden. Jesu Selbstaussage vom „Weg, Wahrheit und Leben“ in Johannes 14, 6 formuliere ja weniger einen Absolutheitsanspruch als vielmehr die Antwort auf die Ungewissheit der Jünger über seinen Weg, der ja ans Kreuz führe und damit alles andere als eine abgeschlossene und unbestreitbare Wahrheitseinsicht darstelle. Aus diesem Freiheitsverständnis folge konsequenterweise die Freiheit für andere religiöse Gewissheiten.
Religiöse Wahrheit ist immer existenziell und die Antwort auf das, was sich als tragfähiger Grund des Lebens gezeigt hat, heißt es im Text. Im religiösen Pluralismus finde sich eine Mehrzahl von Religionen, die ihre jeweilige Erkenntnis als den allein Gott entsprechenden Weg verstehen. Eine daraus resultierende pluralistische Kultur berücksichtige, dass es mehrere Perspektiven auf die Wahrheit gebe, und entwickle daraus die Kunst, Widersprüche und nicht Integrierbares zu ertragen.
Konkret wird dies an verschiedenen Handlungsfeldern gezeigt: der religiösen Begleitung im interreligiösen Zusammenleben, der Möglichkeit des gemeinsamen Betens, der Mission und der Frage, wie die Kirche ihre diakonischen Angebote für Angehörige fremder Religionen öffnen kann. Immer geht es um die Suche nach Abstimmungen und Rückversicherungen statt vorgegebenen Geboten und absoluten Grenzen. Man vertraue hier auf die Einsicht und Dialogfähigkeit der Glaubenden.
Im Verhältnis zum Islam und zum Judentum zeige sich, dass eine Reduktion auf das Gemeinsame unzureichend sei. Der gemeinsame Bezug auf Abraham stehe für unterschiedliche religiöse Grundüberzeugungen und auch die gemeinsame Annahme der „Einzigkeit Gottes“ sei unter den monotheistischen Religionen strittig. Darum bleibe die Auffassung, alle drei glaubten an denselben Gott, eine leere Abstraktion, die von allem absehe, worauf es in Judentum, Islam und Christentum konkret ankomme. „Die drei monotheistischen Religionen unterscheiden sich in dem, was sie verbindet“, formuliert der Text.
Abzulehnen sei daher eine Vorstellung, wie sie im bekannten Bild des Elefanten, von dem der eine den Rüssel, der andere das Ohr und ein dritter die Füße für das Ganze hält, immer wieder Ausdruck findet. Ein solcher überlegener und neutraler Standpunkt, von dem das ganze Feld des Religiösen überblickt werden kann, sei abstrakt und stehe niemandem zur Verfügung.
Sich dialogisch auf andere religiöse Erfahrungen einzulassen und sie zu verstehen suchen, ohne die eigene Identität zu verleugnen, sondern von der eigenen Perspektive her Unterscheidungen zu treffen – diese Arbeitsweise hat sich in der weltanschaulichen Arbeit immer deutlicher etabliert. Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Selbstdeutung einer Religion und der Fremddeutung zu bedenken, ermöglicht einen Weg jenseits von bloßer Abkapselung oder Relativierung. Mit diesem Ansatz bietet der Text hilfreiche Orientierungen. Die evangelische Perspektive kommt mit den reformatorischen Grundeinsichten und dem Einbezug biblischer Texte deutlich zum Tragen. Die konkrete Umsetzung bleibt aber über weite Strecken sehr individualistisch und wird dem einzelnen Glaubenden aufgetragen, die Perspektive auf die Kirche ist oft nicht zu erkennen.
Es fehlt die „dunkle Seite“ des Religiösen
Kritisch anzumerken ist: Die gesamte religiöse Vielfalt – mit ihren religiösen Neugründungen, Neuoffenbarern, Psychoszenen, Heilungsangeboten und der Esoterik – kommt nicht zur Sprache. Abgesehen von der Frage nach religiöser Gewalt in Geschichte und Gegenwart fehlt die ganze „dunkle“ Seite des Religiösen mit ihren konfliktträchtigen Vertretern. Religion wird immer positiv besetzt und nie zumindest auch ambivalent.
☐ Andreas Hahn ist Referent für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Amt für missionarische Dienste in Dortmund. Der EKD-Text kann unter http://www.ekd.de/EKD-Texte/christlicher_glaube.html heruntergeladen werden.