Juden haben in Deutschland wieder “Angst, als Juden identifiziert zu werden”, so die Bildungsstätte Anne Frank. Jüdische Menschen versteckten dieser Tage “erkennbare Symbole”. Judenhass wachse, auch auf Social Media.
Offenen Antisemitismus auf Straßen und im Netz nimmt die Bildungsstätte Anne Frank im Zuge des Nahost-Konflikts auch in Deutschland wahr. In der Folge verzichteten viele Jüdinnen und Juden auf Dinge, die sie erkennbar machten, sagte Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, am Mittwoch vor Journalisten in Frankfurt am Main. “Jüdische Menschen verstecken dieser Tage erkennbare Symbole oder sprechen mit ihren Kindern Fantasiesprachen statt Hebräisch auf Spielplätzen aus Angst, als Juden identifiziert zu werden”, sagte Schnabel.
Juden erlebten, dass das Existenzrecht Israels in Frage gestellt werde, dass Davidsterne und Hakenkreuze an Wohnhäuser und Geschäfte geschmiert würden, außerdem antisemitische Anfeindungen und Gewaltübergriffe. Schnabel sagte, viele Jüdinnen und Juden erinnerten sich aktuell schmerzlich an die eigenen Schicksale oder die ihrer Angehörigen während der Schoah. “Es brechen Traumata auf und es wird sich die Sinnfrage gestellt, wer man noch ist, wenn man das, was die eigene Identität ausmacht, verstecken muss.”
Nach den Novemberpogromen von 1938 hätten sich viele Juden in Deutschland alleingelassen gefühlt – “von den Nachbarn, den Freunden, der Presse”. Statt Protest habe es “ein großes Schweigen und ein kollektives Wegsehen” gegeben, so Schnabel. “Dazu darf es niemals wieder kommen!”
Mit Blick auf das Massaker der Hamas in Israel vom 7. Oktober mit mehr als 1.400 Toten und der Geiselnahme von mehr als 200 Menschen sagte Schnabel: “Man müsste meinen: Die Welt sollte stillstehen. Oder es sollte Massenproteste geben, die regelmäßig die Freilassung der Geiseln und das Ende der Gewalt gegen jüdische Menschen einfordern.” Das sei aber selten der Fall. Zwar gebe es Mitgefühl und Anteilnahme, aber auch sehr viel Schweigen.
Die Politikwissenschaftlerin Eva Berendsen sagte, Antisemitismus und “Hass auf Israel” seien auch in den Sozialen Netzwerken verbreitet, zuletzt vor allem auf TikTok. Die Videoplattform bereite mit der Vereinfachung von komplexen Problematiken und Fake-News einen “fruchtbaren Nährboden für Radikalisierung”. Die Lage habe sich “dramatisch zugespitzt”, so Berendsen, die den Bereich “Politische Bildung im Netz” bei der Bildungsstätte leitet. Sie stimme der Einschätzung von Terrorexperten zu, wonach auf Social Media “der Nährboden des Terrorismus von morgen bereitet wird”.
Die 1994 gegründete Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt ist laut eigenen Angaben “bundesweit aktiv, um Jugendliche und Erwachsene für Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit zu sensibilisieren” – in Workshops, Fortbildungen und interaktiven Ausstellungen. Zudem will die Einrichtung über das Leben von Anne Frank im Nationalsozialismus ein Bewusstsein für Antisemitismus in der Gegenwart wecken.
Das aus Frankfurt am Main stammende jüdische Mädchen hatte sich mit ihrer Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam vor den Nazis versteckt. Am 4. August 1944 wurde das Versteck aufgespürt und alle dort Untergetauchten verhaftet. Anne Frank starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurde nur 15 Jahre alt. Ihr Tagebuch wurde weltberühmt, in mehr als 70 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt.