Dass sie Tochter eines evangelischen Pfarrers ist, hat Angela Merkel nie verheimlicht, aber auch nie in den Vordergrund gestellt. In ihren Erinnerungen taucht das Thema durchaus auf – als Hintergrundmelodie.
Nun also kann sich Jede und Jeder ein eigenes Bild machen: Seit Dienstag ist die mit Spannung erwartete Autobiografie von Angela Merkel im Handel erhältlich. “Freiheit” heißt das über 700 Seiten starke Werk. Noch am Abend des gleichen Tages sollte das Werk im Deutschen Theater in Berlin vorgestellt werden – in einem Gespräch zwischen Merkel und Moderatorin Anne Will. Schon jetzt läuft die Ausdeutung von Merkels Erinnerungen auf Hochtouren. Was ist der ehemaligen Bundeskanzlerin wichtig? Welche der gefühlten oder tatsächlichen Leerstellen in ihrer 16-jährigen Amtszeit erklärt sie oder lässt sie stehen?
Bereits im Vorwort macht Merkel aber auch deutlich: Es geht ihr nicht nur um ihre rund drei Jahrzehnte umfassende politische Karriere, sondern auch um das, was davor passierte. Eigentlich handle es sich um zwei Leben, schreibt die Ex-Kanzlerin im Vorwort: eines bis 1990 in der DDR, einer Diktatur, und eines seit 1990 in der Demokratie. “Doch in Wahrheit sind es natürlich nicht zwei Leben. In Wahrheit ist es ein Leben, und der zweite Teil ist ohne den ersten nicht zu verstehen.”
Der erste Eindruck einer kursorischen Lektüre: Hier und da spricht die Tochter eines evangelischen Pfarrers zur Leserin und zum Leser. Nüchtern, ohne Pathos, typisch Merkel eben. Ihrem Vater Horst Kasner sei sein beruflicher Weg nicht in die Wiege gelegt worden, hält sie gleich zu Beginn fest. Dessen Vater wurde zwar katholisch getauft und die Mutter war Mitglied der evangelischen Kirche. “Aber meine Großeltern waren keine praktizierenden Christen.” Nach dem Ende des Krieges sei ihr Vater überzeugt davon gewesen, dass es für einen Neuanfang eine Friedensethik brauche. “Für ihn erwuchs sie aus dem christlichen Glauben.”
So habe ihr Vater beschlossen, in den westlichen Besatzungszonen Theologie zu studieren. Schon damals hatte er den Plan, sich danach in der damaligen sowjetischen Besatzungszone niederzulassen. “Dort würden Menschen wie er gebraucht, war er überzeugt. Ich denke, man kann es Berufung nennen”, fasst die Autorin zusammen. Die Folge: Die gebürtige Hamburgerin Angela Merkel wuchs im Osten Deutschlands auf. Eine Konstante im Leben Merkels blieb offenbar die Auseinandersetzung mit Religion und Glaube.
Viele Jahre später sollte sie bei der Vereidigung als Bundeskanzlerin ganz bewusst den Zusatz “So wahr mir Gott helfe” verwenden. Dies habe dazu beigetragen, “mich auch bei schweren Entscheidungen behütet zu fühlen”, fügt sie hinzu. “Ich glaube daran, dass es Gott gibt, auch wenn ich ihn oft nicht direkt erfassen oder erfühlen kann”, hält Merkel fest. “Da ich weiß, dass ich nicht vollkommen bin und Fehler mache, hat der Glaube mir das Leben und auch meinen Auftrag leichter gemacht, mit der mir zeitweise gegebenen Macht Verantwortung für meine Mitmenschen und die Schöpfung zu übernehmen, ohne mich zu überhöhen oder umgekehrt unter Hinweis auf meine beschränkten Möglichkeiten zu schnell klein beizugeben.”
Was das für ihre praktische Politik bedeutete? Das lassen Merkels Ausführungen zu einem vieldiskutierten Ausspruch auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 zumindest ahnen. “Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert”, so Merkel. Für sie selbst sei die Parole Ausdruck einer ganz bestimmten Einstellung gewesen, so die CDU-Politikerin. “Man kann sie Gottvertrauen nennen, Zuversicht oder einfach die Entschlossenheit, Probleme zu lösen, mit Rückschlägen fertigzuwerden, Tiefpunkte zu überwinden und Neues zu gestalten.”
Ein letzter Leseeindruck. Mit einem Großen Zapfenstreich wurde Merkel im Dezember 2021 aus dem Amt verabschiedet. Sie habe sich schon Wochen vorher Gedanken über die Lieder gemacht, die auf ihren Wunsch hin gespielt würden, schreibt Merkel. “Das letzte, das stand für mich immer fest, musste ein Kirchenlied sein.” Es wurde “Großer Gott, wir loben dich”. Merkel: “Ein ursprünglich katholisches, inzwischen ökumenisches Kirchenlied, das die Demut vor Gottes Schöpfung wunderbar ausdrückte.”