Wenn er ein Buch schreibt, ist der Verkaufserfolg beinahe sicher. Doch bei seinem jüngsten Werk „Der Skandal der Skandale“ wünscht sich Bestsellerautor Manfred Lütz vor allem eins: eine seriöse Debatte. In dem Buch über die Kirchengeschichte geht es vor allem um Brennpunkte der Vergangenheit wie Kreuzzüge, Hexenverfolgung und Inquisition, die er ins rechte Licht rücken möchte. Damit hat bereits für heftige Diskussionen gesorgt. Die Grundgedanken seines Buches und das, was ihn an mancher Kritik stört, erläutert der Psychiater, katholische Theologe und Publizist im Gespräch mit Ludwig Ring-Eifel in Köln (siehe auch Kommentar Seite 5):
Herr Lütz, Ihr Buch verkauft sich gut. Ihre These, dass die Geschichte des Christentums ganz neu erzählt werden muss, scheint zu provozieren. Aber hat es die Debatte ausgelöst, die Sie sich wünschen?
Es gibt immer zwei Phasen bei einem Bestseller. Erst kaufen ganz viele Leute das Buch, in diesem Fall sind es schon 60 000, vor allem weil sie das Thema interessiert. Und dann kommt eine zweite Welle, wenn es wirklich gelesen wird. Bis jetzt war es Thema in vielen Talkshows, in Rezensionen und in kritischen Auseinandersetzungen. Am heftigsten hat die Regionalgruppe Koblenz der Giordano-Bruno-Stiftung reagiert. Die haben mir 100 Kotzschalen aus Pappe geschickt. Es ist schon bemerkenswert, auf welchem intellektuellen Niveau deutsche Atheisten inzwischen angekommen sind.
Aber es gab doch hoffentlich auch seriöse Kritik an Ihrem Buch…
Gravierende Fehler wurden mir noch nicht nachgewiesen. Aber Gregor Gysi, der das Buch in Berlin mit Jens Spahn vorgestellt hat, kritisierte zum Beispiel, dass ich geschrieben habe, vor 20 Jahren hätten Serben im Kosovo mit Gewalt daran gehindert werden müssen, massenhaft Menschen zu töten, bloß weil sie Kosovaren waren. Das sei eine Rechtfertigung des Kosovo-Krieges. Da hat er Recht, das werde ich in der nächsten Auflage ändern, denn ich will in dem Buch gar keine eigene Meinung verbreiten, sondern den Stand der historischen Forschung zu all den so genannten Skandalen der Christentumsgeschichte. Es ist eine ergänzte Kurzfassung des berühmten Werks „Toleranz und Gewalt“ des Kirchenhistorikers Arnold Angenendt und wurde von führenden Historikern korrekturgelesen, aber auch von meinem Friseur, damit es locker bleibt.
In Ihrem Buch zeigen Sie, dass sich die historische Wahrheit über Kreuzzüge, Hexenverfolgung und Inquisition klar von dem unterscheidet, was die meisten so glauben, und dass der Kirche Verbrechen angelastet werden, die andere begangen haben. Warum kann sich die neue Forschung kaum gegen die alten Legenden durchsetzen?
Das hat mit den „Fake News“ zu tun, die im Laufe der Jahrhunderte, auch im Streit von Katholiken und Protestanten, in die Welt gesetzt wurden. Diese Polemik wirkt bis heute nach und gehört zum vermeintlichen Grundwissen vieler Menschen. Auch die Verleumdungen, die von den Hitlers und Honeckers in die Welt gesetzt wurden, halten sich. Das krasseste Beispiel ist Himmlers Legende von neun Millionen germanischen Frauen, die von katholischen Priestern als Hexen ermordet wurden, um die germanische Rasse und Religion auszulöschen. Das geistert in anderer Form immer noch durch die Debatten. Die Forschung sagt heute, dass die kirchliche Inquisition sich gegen die Hexenverfolgung stellte. Es war die moderne weltliche Justiz, die vor allem in Deutschland gegen die Hexen wütete.
Wenn sich solche Legenden halten, dann sind auch Christen daran mit schuld, die sich sicherheitshalber für die eigene Geschichte schämen, ohne sie zu kennen. Deswegen muss sich aus meiner Sicht jeder Christ über den Stand der Wissenschaft informieren, aber auch jeder Atheist, der die geistigen Grundlagen unserer Gesellschaft verstehen will. Daher hoffe ich, dass das Buch eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Welcher Christ weiß heute schon, dass Toleranz, Mitleid und die Gleich-berechtigung aller Völker christliche Erfindungen sind. Sagt nicht der Vatikan, sondern die moderne Forschung. Aber die muss man dann auch kennen.
Wenn das so ist, warum sehen dann so viele Menschen die Kirche als eine Institution an, die für Unterdrückung und gerade nicht für Freiheit steht?
Zwischen uns und der langen Geschichte des Christentums steht das 19. Jahrhundert, in dem sich die Päpste viel zu sehr mit der Verteidigung ihrer Herrschaft im Kirchenstaat befasst haben. Vor allem aber wurde da eine verklemmte bürgerliche Sexualmoral beherrschend. Das hat Angst und Doppelmoral hervorgebracht, wogegen man aufbegehrte. Aber das Christentum findet nicht in den Geschlechtsorganen, sondern im Gehirn statt. Und genau deshalb finde ich es so ungeheuer wichtig, was Papst Franziskus tut: Dass er die Kirche in ihrem Wirken in der Welt wieder an das Wesentliche erinnert, nämlich an die Barmherzigkeit und die Solidarität mit den Schwächsten.