Burak Yilmaz kennt die Einstellungen muslimischer Jugendlicher gut. Der Pädagoge bekämpft Antisemitismus an der Wurzel, spricht in Schulen und Jugendzentren. Von der deutschen Politik ist er enttäuscht.
Mit seinem Projekt “Junge Muslime in Auschwitz” wurde Burak Yilmaz bekannt. Durch die Besuche mit Jugendlichen in dem NS-Vernichtungslager wollte er ganz konkret etwas gegen Antisemitismus tun. 2019 musste er das Projekt einstellen, auch weil er dafür keine Fördergelder bekam. Doch gegen Judenhass engagiert sich der 1987 als Sohn türkisch-kurdischer Eltern in Duisburg geborene Pädagoge weiter, hält Vorträge in Schulen, diskutiert mit Jugendlichen. Die antisemitischen Auswüchse seit Beginn des Nahostkriegs seien ein Alarmsignal, sagt er der Katholischen Nachrichten-Agetur (KNA). Er warnt aber auch vor Stigmatisierung: “Wir verlieren gerade eine ganze Generation.”
KNA: Herr Yilmaz, vor zwei Monaten begann die antisemitische Welle in Deutschland. Was hat das mit der Gesellschaft gemacht?Yilmaz: Die gesellschaftlichen Debatten sind polarisierter geworden. Antisemitische Gewalttaten haben schon jetzt um das Zweieinhalbfache im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zugenommen. Ich beobachte auch mehr Zuspruch für Islamismus in Deutschland. Islamistische Kanäle auf Social Media konnten ihre Followerzahlen teils verdreifachen. Das zeigt, wie der Gazakrieg die Radikalisierung befeuert hat. Der zweite große Gewinner der Debatte ist die AfD. Sie hat die Demos genutzt, um Stimmung gegen Muslime und Juden zu machen – und konnte damit punkten.KNA: Fühlen sich Musliminnen und Muslime, insbesondere Jugendliche stärker rassistisch stigmatisiert als vor dem 7. Oktober?Yilmaz: Im Grunde geht es schon das ganze Jahr so. Es begann mit den Silvesterkrawallen, dann hatten wir die “Pascha”-Debatte, dann die “Freibad”-Debatte und nun die über muslimischen Antisemitismus. Diese Debatten kriminalisieren muslimische Jugendliche pauschal. Das setzt sich fest im öffentlichen Bewusstsein. Wir verlieren hier gerade eine ganze Generation muslimischer Jugendlicher, die sich immer mehr in ihre Community zurückzieht. Das macht mir Sorgen. Eigentlich empfinden die meisten Deutschland als ihr Land. Aber viele haben das Gefühl, dass der Rassismus wächst und ihre Zugehörigkeit gerade wieder verhandelt wird.KNA: Was wohl auch mit der emotionalen Debatte über die hohe Zahl junger muslimischer Einwanderer zusammenhängt. Es heißt immer wieder, Deutschland “importiere” damit Judenhass. Wie groß schätzen sie das Phänomen eines spezifisch islamischen Antisemitismus ein?Yilmaz: Seit Oktober erleben wir im Kern einen politischen, israelbezogenen Antisemitismus, auch von vielen Nichtmuslimen. Aber er wird von Muslimen auch immer wieder religiös aufgeladen, etwa durch Bezüge auf den Kampf Mohammeds gegen die Juden in Medina. Diese unterschiedlichen Formen von Antisemitismus verbinden sogar einst verfeindete Lager. Ich sehe da im Moment aber auch einen doppelten Standard: Migrantische Antisemiten will man abschieben, aber deutsche Antisemiten wählt man in den Bundestag. Dabei kann das Phänomen nur in all seinen Formen wirksam bekämpft werden.KNA: Bleiben wir noch bei der muslimischen Variante. Wie beurteilen Sie da die Rolle der islamischen Verbände, die für ihr Schweigen zu den antisemitischen Aktionen heftig kritisiert wurden und dann erst reagierten? Yilmaz: Das sind für mich überwiegend Lippenbekenntnisse. Es reicht nicht, mal eine beruhigende Pressemitteilung rauszuschicken oder ein friedfertiges Interview zu geben. Entscheidend ist, was in den Gemeinden getan wird. Und da ist mein Verdacht, dass dort teils auch antisemitische Inhalte vermittelt werden. Die islamische Theologie muss dagegen aufstehen. Solange sich maßgebliche Theologen nicht abgrenzen von Islamisten wie dem Holocaustbefürworter Yusuf al-Qaradawi, gestorben 2022, oder Necmettin Erbakan, gestorben 2011, dem antisemitischen Mentor Erdogans, hört der Hass nicht auf. Die Theologie muss sich endlich mit dem Gewaltpotenzial und der Instrumentalisierung bestimmter Koranverse auseinandersetzen und sie historisch einordnen.KNA: Trotzdem sind die Islamverbände ein wichtiger Ansprechpartner für die deutsche Politik, weil sie die meisten Moscheegemeinden vertreten – und so auch Zigtausende Jugendliche erreichen.Yilmaz: Es ist eine bequeme Lüge der Politik, dass sie keine anderen Ansprechpartner findet. In den letzten zehn Jahren hat sich eine lebendige muslimische Zivilgesellschaft entwickelt, die für einen progressiven Islam steht und den Dialog, gerade auch gegen Antisemitismus, voranbringt. Dort weiß man: Wenn heute eine Synagoge brennt, sind morgen wir dran. Wenn die Politik eine offene, tolerante Gesellschaft will, kann sie nur auf progressive Musliminnen und Muslime setzen und muss den Einfluss der Verbände mit ihrem wörtlichen Koranverständnis zurückdrängen. Sonst fördert der Staat selbst die antisemitischen Kundgebungen, die er dann beklagt.KNA: Welche Lehren hat die Politik denn überhaupt aus den Szenen der vergangenen Wochen gezogen?Yilmaz: Ich bin da leider nicht sehr optimistisch. Ein paar Wochen drehte sich die Empörungsspirale, nun bleibt wieder alles beim Alten. In Wahrheit hat die Politik keine echten Antworten auf den Antisemitismus in der Gesellschaft und erkennt nicht die Größe des Problems. Daran ändern Slogans wie “Keine Toleranz für Islamisten” oder “Kampf gegen rechts” wenig. Muslimische Jugendliche überlässt sie sich selbst und blendet die Probleme lieber aus. Wir haben es da eher mit Politikverweigerung der demokratischen Parteien zu tun. Ich vermisse eine radikale Offensive.KNA: Ihre Besuche mit muslimischen Jugendlichen in Auschwitz sorgten damals für Aufmerksamkeit. Ist der Holocaust ein wirksames Thema, um Antisemitismus das Wasser abzugraben?Yilmaz: Der krasse Anstieg rassistischer und antisemitischer Gewalt der letzten Wochen zeigt mir, dass die Erinnerungskultur in diesem Land gescheitert ist. In einer vielfältigen Gesellschaft brauchen wir natürlich auch neue Zugänge zum Holocaust. Wir müssen Erinnerungskultur neu denken. Erinnerungskultur bedeutet für mich auch, empathisch und solidarisch mit heutigen Betroffenen zu sein. Vor allem in dieser Zeit brauchen wir Geschichten, die Mut und Hoffnung geben. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus lohnt sich. Er ist ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft.