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Zwischen Leidenschaft und Präzision

Sie strukturieren den Tag und das Leben, sie rufen Christinnen und Christen zum Gebet: Kirchenglocken. Trotz ihrer Masse und Größe sind diese Instrumente anfällig für Schäden. Allgäuer Forscher verhelfen Kirchenglocken zu längerem Leben

KNA/Elisabeth Rahe

Im Schalllabor der Fachhochschule Kempten ist es mucksmäuschenstill. Ein Meter zwanzig starke Wände, dick gepolstert mit Kissen aus Glaswolle, isolieren jedes Geräusch aus dem sechs Meter hohen Gebäude, das von außen wie eine Lagerhalle aussieht. Nur zwei eiserne Exponate vor der Tür deuten darauf hin, was hier erforscht wird: „Maintenance and Protection of Bells“, zu deutsch: Erhaltung und Schutz von Glocken.
Michael Plitzner ist seit 2005 an dem EU-geförderten Projekt beteiligt, inzwischen ist er Geschäftsführer des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken. Die Instrumente faszinieren den Wissenschaftler mit den dunkelblonden Locken. „Glocken sind, als Techniker gesprochen, ein hochbeanspruchtes Musikinstrument“, erklärt der 38-Jährige.

Kirchenglocken sind anfällig für Sprünge

Je nach Material, Intensität des Klöppelanschlags und dem sogenannten Läutewinkel haben vor allem Kirchenglocken ein relativ hohes Risiko für Sprünge, Risse und weitere Schäden.
Damit die Forscher dem entgegenwirken können, haben acht Gießereien aus ganz Europa, unter anderem aus Hessen, der Normandie und Innsbruck, eigens Instrumente angefertigt. Die massivste, die den Weg ins Schalllabor gefunden hat, hatte einen Durchmesser von 1,6 Metern und wog 1,2 Tonnen. „Diese Glocke haben wir in 320 Stunden kaputtgeläutet. Wenn man davon ausgeht, dass Kirchenglocken im Jahr zwischen 30 und 40 Stunden läuten, hätte sie im Kirchturm also keine zehn Jahre überlebt“, erklärt Plitzner. Mit modernster Messtechnik, die in hauchdünnen Drähten an die Glocken angebracht und direkt mit dem Computer verknüpft ist, konnten die Forscher feststellen, wie welche Schäden entstanden sind.
Trotz dieser konzentrierten Laborarbeit sind Glocken für den Wissenschaftler stets ein Faszinosum geblieben.

Auch schon die Papstglocke bearbeitet

Ein Ausgleich zur technischen Präzisionsarbeit ist der Einsatz an Glocken vor Ort – zumeist in Kirchtürmen. Berühmte Patienten waren etwa die Kölner Petersglocke, die „Alte Pummerin“ in Wien oder die Papstglocke im Petersdom. „Da gehen wir sehr sorgsam vor“, betont Plitzner, und man hört die Begeisterung in seiner Stimme: „An diesen Glocken wollen wir möglichst nichts verändern – da sollte ja sogar die Dreckschicht erhalten bleiben, weil die gewissermaßen antik ist.“ Ganz abgesehen davon, dass das Team bei solch bedeutenden Objekten unter besonderer Beobachtung steht: „Bei den Arbeiten an der Papstglocke stand die Schweizergarde daneben“, erinnert sich der Wissenschaftler.
Für den Laien ist es ebenso imposant, wenn Plitzner im Schalllabor den Hebel an dem massiven hölzernen Glockenstuhl umlegt. Erst ist nur das leise Knarzen des sogenannten Jochs zu hören, in dem das bronzene Instrument verankert ist. Doch schon der erste Anschlag des Klöppels schallt laut und im wahrsten Sinne des Wortes glockenklar durch den Raum. Der Ton hallt lange nach, und man spürt das Vibrieren der Glocke im Bauch.
Die Belastung durch das Läuten zu erforschen, ist nur ein Projekt für den Maschinenbauer Plitzner, der sich schon während des Studiums in Praktika mit Glocken befasst hat. Ebenso wichtig ist ihm ein schöner Klang. „Wir möchten das optimale Verhältnis zwischen Beanspruchung und Klang ausbalancieren“, erklärt er. Beides geht Hand in Hand: Über die Töne lassen sich Schäden feststellen – oder auch Besonderheiten wie eingravierte Bildnisse oder Inschriften.

Ein Arztkoffer für Glocken steht bereit

Das führe auch im Alltag zu einer veränderten Wahrnehmung, gibt der Wissenschaftler zu: „Wenn ich unterwegs Kirchenglocken höre, versuche ich, sie zu analysieren: Wie passen die Glocken zu-sammen? Klingen die Töne harmonisch, oder ist ein Klöppelanschlag zu heftig?“
In seinem Labor steht für diese Untersuchungen der passende Arztkoffer bereit: Hörschutz, Gummi­hammer und Stimmgabeln gehören zur Ausrüstung. Eine Glocke steht kopfüber auf dem Boden, auf den ersten Blick sieht sie aus wie eine hüfthohe Vase. Ein dünnes Mikrofon baumelt über der Öffnung; Michael Plitzner beugt sich über ihren Rand und schlägt mit dem Gummihammer an. „Jede Glocke hat Töne in sich, man muss sie nur herausholen“, erklärt er. Wie diese Töne klingen, ist allerdings individuell; die Forscher nennen das auch den musikalischen Fingerabdruck.
Eindeutig sind vor allem die kaputten Glocken zu erkennen, ihre Töne klingen stumpf und blechern oder spalten sich in mehrere Frequenzen auf. „Je größer ein Riss wird, desto mehr flimmern die Töne“, erklärt Plitzner. Diese sogenannte Schwebung klingt nicht nur unschön, sondern verbraucht auch Energie:

Erkenntnisse weitergeben an Glockengießereien

Die Glockenschläge hallen dann nur noch wenige Sekunden nach, nicht mehr bis zu drei Minuten wie bei intakten Instrumenten.
Die Forscher versuchen, ihre Erkenntnisse an Glockengießereien weiterzugeben, damit manche Schäden – etwa durch besser Materialauswahl – besser vermieden werden können. „Dabei kann man nicht sagen, dass die mitteleuropäische Kultur die günstigste ist“, betont Plitzner. Läutetraditionen haben sich in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich entwickelt, und für jede Läutekultur gibt es prinzipiell das optimale System. Der augenfälligste Unterschied besteht zwischen Ost- und Westkirche. In der Ostkirche läuten die Glocken nicht im eigentlichen Sinne, sondern werden starr aufgehängt und von innen oder außen mit einem Klöppel angeschlagen. In Südtirol und Norditalien dagegen läuten die Glocken sehr hoch, in Spanien rotieren sie sogar um die eigene Achse.

Verständnis für Beschwerden über Glocken

Für Michael Plitzner machen diese kulturellen Einflüsse einen Teil der Faszination an Glocken aus. Er hat auch Theologie studiert und ist in seiner Heimatgemeinde in Füssen engagiert, insofern bedeutet ihm persönlich die Transzendenz der Instrumente viel: „Man sagt ja, Glocken seien die Stimme Gottes, die zum Gebet ruft“, erklärt er. Er habe trotzdem ein gewisses Verständnis für Menschen, denen Glockenläuten in bestimmten Situationen unangenehm wird. Der Forscher plädiert für einen sensiblen Umgang mit dem Thema: „Wenn Glocken nur aus einer toten Tradition heraus mitten in der Stadt um vier Uhr morgens läuten, kann man darüber vielleicht einmal sprechen.“
Aktuell arbeiten die Forscher daran, besonders laute Glocken zu dämpfen und zugleich ihre Klangfülle zu erhalten. Dennoch betont Plitzner den kulturellen Wert des Glockengeläuts. „Glocken strukturieren das Leben – drei Mal läuten jedem die Glocken, zur Taufe, zur Eheschließung und am Grab“, erläutert er. „Und sie strukturieren den Tag, erinnern an den Aufbruch ebenso wie ans Innehalten. Das ist etwas, das uns in der heutigen Zeit oft fehlt.“

Das Europäische Kompetenzzentrum für Glocken gehört zur Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten (Bahnhofstr. 1, 87435 Kempten).