Artikel teilen:

Zwischen Ausgrenzung und Assimilation

Neue Schau in Minden erkundet jüdisches Leben in Preußen

«Jüdisch? Preußisch? Oder was?» – mit einem zentralen Beitrag zum Festjahr «1.700 Jahre Jüdisches Leben» öffnet das LWL-Preußenmuseum nach langer Pause wieder seine Pforten. Die Sonderschau präsentiert sich modern, kompakt und interaktiv.

Minden (epd). Der Jude Sally Strauß erhielt nach seinem Militärdienst im preußischen Infanterie-Regiment Nr. 15 in Minden 1913 ein gutes Führungszeugnis. Der blaue Uniformrock, den der 20jährige damals trug, ist über 100 Jahre später in die alte «Defensions-Caserne» nach Minden zurückgekehrt – als eines von rund 50 Exponaten der neuen Sonderausstellung «Jüdisch? Preußisch? Oder was?» im LWL-Preußenmuseum. Die Nachfahren von Strauß, der 1940 an den Folgen von im KZ Buchenwald erlittenen Misshandlungen starb, stellten das Kleidungsstück zur Verfügung, als sie von den Plänen für die Schau erfuhren, wie Museumsleiterin Sylvia Necker berichtet.

   «Jüdische Soldaten beim deutschen Militär?» – eine von zehn Fragen, die den Besucherinnen und Besuchern bereits am Eingang der Schau gestellt werden. Nicht chronologisch will die Ausstellung die Beziehungen und Verflechtungen zwischen jüdischen Bürgern und der preußischen Mehrheitsgesellschaft darstellen, kein
«Geschichtsbuchwissen» soll hier abgebildet werden, so LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger. Zehn Themen sind es, mit denen sich Interessierte in zehn Räumen auseinandersetzen können – dafür stehen Verben wie «ankommen», «beten», «lernen», aber auch «streiten» oder «polarisieren». Schnell sei man dann bei heutigen Fragen von Migration oder Antisemitismus, betont Necker.

   Die blaue Uniform des Infanteristen Sally Strauß steht im Raum «kämpfen». Dahinter zeigt eine Bildwand das Gedenktuch für einen jüdischen Feldgottesdienst bei der Belagerung von Metz im deutsch-französischen Krieg 1870: Preußische Soldaten mit Pickelhaube – und jüdischem Gebetsmantel. Kompakte Texte geben weitere Informationen: Jüdische Bürger hofften auf gesellschaftliche Anerkennung durch den Militärdienst, wurden aber von Offizierslaufbahnen regelmäßig ausgeschlossen.

   Die Ausstellung in der historischen Kaserne bietet im wahrsten Sinne des Wortes viel Platz für eigene Gedanken der Gäste. Farbige Lichtkegel erleuchten den Boden, im Raum «kämpfen» in Rot. Wer am Eingang einen der weißen Holzstühle mitnimmt und sich in den Farbkreis setzt, kann den Raum auf sich wirken lassen. Ein Leitexponat zieht jeweils den Blick auf sich. Im Raum «verspotten» mit der Farbe Gelb ist es ein «antisemitischer Bierkrug» aus der Zeit um 1910. Auf dem Henkel prangt ein Relief des protestantischen Hofpredigers Adolf Stöcker, ein Protagonist des Antisemitismus in der Kaiserzeit. Sprüche wie «Kauft nicht bei Juden» und rassistische Zerrbilder jüdischer Händler sind auf dem Humpen zu sehen. Die Bildwand dahinter zeigt Fundstellen solcher Krüge auf aktuellen Internetseiten – bei Militaria-Händlern ebenso wie bei der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

   Mit der jüdischen Religion setzt sich die Schau unter dem Stichwort «beten» auseinander: Eine Vitrine birgt eine Partitur des Komponisten Louis Lewandowski, der ab 1866 als Dirigent an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin wirkte. Im 19. Jahrhundert hielten Orgeln und mit ihnen neue Kompositionen Einzug in die Synagogen – Zeichen der Assimilation, der Angleichung an die nicht-jüdische Gesellschaft. Lewandowski brachte es bis zum Königlich-Preußischen Musikdirektor.

   Möglichkeiten der Interaktion bietet unter anderem der Raum «reden». Ein runder Tisch erinnert hier an die Tradition der Salonkultur des 19. Jahrhunderts. Projektoren werfen Fragen der Ausstellung an die Wand – jede und jeder kann antworten und
mitdiskutieren. Um 1820 unterhielt die Jüdin Amalie Beer einen literarisch-musikalischen Salon in Berlin – für ihr caritatives Engagement verlieh ihr der preußische König den Luisen-Orden, in einer speziellen Version ohne Kreuz.

   Für LWL-Verbandsdirektor Matthias Löb ist die Schau «Jüdisch? Preußisch? Oder was?» eines der wichtigsten Projekte zum Festjahr «1.700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland». Sie zeige eine Geschichte von Ausgrenzung, Hass, Diskriminierung und Verfolgung, aber auch die «starken jüdischen Einflüsse in der deutschen
Gesellschaft» die ihre Spuren hinterlassen hätten. Zugleich sei die Sonderausstellung ein Vorgeschmack auf die künftige Dauerausstellung des Preußenmuseums, die im Laufe des nächstes Jahres eröffnen soll, sagte Löb.

   Kulturdezernentin Rüschoff-Parzinger verspricht für das Haus, das am 12. November nach sieben Jahren erstmals seine Pforten wieder für Besucherinnen und Besucher öffnet, eine «neue Art der Museumsarbeit» mit «aktiver, partizipativer Auseinandersetzung mit Geschichte vor Ort». Die Sonderschau, die bis 11. September 2022 läuft, ist auch mit einer digitalen Besucherführung zugänglich, also «auch vom heimischen Sofa», sagte Museumsleiterin Necker.