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Missbrauchsstudie der EKD: Ein zerstörtes Selbstbild

Drei Jahre lang haben Forscher analysiert, welche Ursachen sexueller Missbrauch in der evangelischen Kirche hat. Ergebnis: Das Selbstbild der “besseren Kirche” ist dahin.

Die Forum-Studie zeigt das Ausmaß des Missbrauchs
Die Forum-Studie zeigt das Ausmaß des Missbrauchsepd-bild / Jens Schulze

Die 2.600 Seiten wiegen schwer in den Händen der amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs. Sie hält drei gedruckte Exemplare der Missbrauchsstudie in den Händen, an der ein interdisziplinäres Forscherteam drei Jahre lang gearbeitet hat und die in Hannover vorgestellt wurde. Fehrs entfährt ein lautloses „puh“.

Nicht nur die Masse der je Exemplar 870 Seiten langen Studie wiegt schwer, auch deren Inhalt. Zuvor hat der Leiter des Forschungsverbunds, Martin Wazlawik, Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, die zentralen Ergebnisse präsentiert. Neben erstmals bundesweit erhobenen Zahlen zur Häufigkeit von Missbrauch in den 20 evangelischen Landeskirchen und 17 Landesverbänden der Diakonie enthält sie auch Analysen über strukturelle Ursachen.

Fehrs zu Missbrauch: “Erschütternd”

Die EKD als Dachverband der 20 einzelnen Gliedkirchen, die föderal organisiert sind, hatte die Studie 2020 in Auftrag gegeben und den Forschungsverbund von Wissenschaftlern aus acht Universitäten und Instituten mit einer Zuwendung in Höhe von 3,6 Millionen Euro gefördert. Die Ergebnisse sind „erschütternd“, wie Fehrs sagt. Sie zerstören das Selbstbild einer Kirche der Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe, das Selbstbild einer progressiven und liberalen Kirche, die ihren gesellschaftlichen Auftrag darin sieht, an der Seite der Armen und Schwachen zu stehen.

Das lässt sich in Zahlen benennen, die jedoch nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ ausmachen, wie es in der Studie heißt: Demnach gab es mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Täter, darunter 511 Pfarrer. Die Zahlen sind auch deswegen nur die „Spitze der Spitze“, weil die Forscher rund um den Mannheimer forensischen Psychiater Harald Dreßing auf die Zuarbeit der Landeskirchen und diakonischen Verbände angewiesen waren. Diese sahen sich mangels Kapazitäten nicht in der Lage, wie ursprünglich vertraglich vereinbart, alle Personalakten zu sichten. Dreßing spricht von „schleppender Zuarbeit“. Er hat viel Erfahrung, leitete den Forschungsverbund, der 2018 die katholische Missbrauchsstudie vorlegte.

Um das Projekt in Gänze nicht zu gefährden, einigte man sich schließlich darauf, nur die Disziplinarakten der Pfarrer zu sichten. In der Studie findet sich daher auch eine Schätzung, wie hoch die Zahl der Beschuldigten und Betroffenen hätte ausfallen können, hätten die Forschenden umfassende Meldungen erhalten: 9.355 Betroffene und 3.497 Beschuldigte, darunter 1.402 Pfarrer.

Pfarrer nutzten ihr Amt aus

Doch es geht nicht allein um valide Zahlen. Denn Wazlawik und sein Team benennen konkrete evangelische Spezifika für sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen: die föderale Struktur mit den 20 Landeskirchen etwa, mit der interviewte leitende Geistliche auch „kokettierten“, wie Wazlawik es ausdrückt. Eine Führungs- und Leitungskultur, in der Verantwortlichkeit nicht klar erkennbar war. Eine reaktive Aufarbeitung, die mangels Transparenz zu weiteren Opfern führte. Das positive Bild der evangelischen Kirche als sicherer Ort, an dem Gewalt an Kindern als unvorstellbar galt.

Statt einer „idealisierten Selbsterzählung“ lohne ein Blick in die tatsächlich mangelhafte Praxis im Umgang mit Missbrauchsfällen. In der Erzählung der „besseren Kirche“ sei Missbrauch als strukturelles Problem nicht vorstellbar oder schwer zu ertragen. Wazlawik spricht auch von einer Konfliktunfähigkeit, gar von einem „Harmoniezwang“. Das „Milieu der Geschwisterlichkeit“ begünstige den Schutz von Tätern und konfrontiere Betroffene immer wieder mit dem Wunsch nach Vergebung. Wenn Betroffene sich den Wünschen und Vorstellungen der Institution widersetzten, erlebten sie Ausgrenzung und Stigmatisierung, wie die Studie zeigt.

Die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs hält die Ergebnisse der Studie für erschütternd
Die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs hält die Ergebnisse der Studie für erschütterndepd-bild / Jens Schulze

Oftmals nutzten beschuldigte Pfarrer ihr Amt zur Anbahnung aus, erläutert Wazlawik. Ein unklares Amtsverständnis, das berufliche Aufgaben und private Lebensführung vermische, begünstige Missbrauch.

Schlimme Folgen für Betroffene von Missbrauch

Für Betroffene hatte der Missbrauch und der institutionelle Umgang damit gravierende gesundheitliche, emotionale und soziale Folgen. Detlev Zander, Sprecher der Betroffenen im Beteiligungsforum in der EKD und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, spricht bei der Vorstellung der Studie von einem „rabenschwarzen Tag“ für die Kirche und die Diakonie. Für die Betroffenen aber sei es ein guter Tag. Er fordert eine übergeordnete Stelle in der EKD, die für die Aufarbeitung zuständig ist und den Landeskirchen verpflichtende Vorgaben machen kann.

Aufseiten der Kirchenleitenden findet sich das Eingeständnis, „bestürzend viel falsch gemacht“ zu haben, wie Fehrs sagt. „Es muss sich sehr, sehr viel verändern, und wir nehmen das an.“ Studienleiter Wazlawik gibt am Ende zu bedenken, dass sich die alten Kulturen nicht einfach mit neuen Regelungen auflösen ließen. Das erfordere viel Kraft, Energie und Thematisierung, damit ein Wechsel stattfinde.