Er ist das Gegenbild eines Kriegshelden: Nackt und vornüber gebeugt auf den Knien liegend bietet der „Der Gestürzte“ ein Bild der Niedergeschlagenheit. In der rechten Hand hält die dürre Gestalt einen Schwertstumpf. In der 1915 geschaffenen Skulptur verdichtet Wilhelm Lehmbruck das ganze Elend des Ersten Weltkrieges.
Als Sanitäter in einem Berliner Hilfslazarett hatte er zuvor gesehen, welche menschlichen Verstümmelungen der Krieg anrichtet. Bei vielen seiner Zeitgenossen löste er mit der langgliedrigen Männer-Figur Befremden aus. Heute ist die Skulptur eines der bekanntesten Werke des Künstlers, der sich vor 100 Jahren, am 25. März 1919, das Leben nahm.
Nicht dem Männerideal entsprechende Figuren
„Lehmbruck hat viel Kritik bekommen für seine Männerfiguren“, sagt die Direktorin des Duisburger Lehmbruck Museums, Söke Dinkla. Denn er zeigte zarte, zerbrechliche, in sich gekehrte Männer. „Das widersprach komplett dem damaligen Männerideal.“ Nichtsdestotrotz war Lehmbruck bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Künstler. Einen Tag vor seinem Selbstmord im Alter von 38 Jahren wurde er sogar in die Preußische Akademie der Künste in Berlin gewählt. Die postalisch zugestellte Nachricht dürfte ihn allerdings nicht mehr erreicht haben.
Der am 4. Januar 1881 in Duisburg-Meiderich geborene Lehmbruck hatte schon früh Erfolg. Nachdem er zunächst die Kunstgewerbeschule besucht hatte, studierte er ab 1901 in der Bildhauerklasse der Kunstakademie Düsseldorf. Schon während des Studiums verkaufte er mehrere Arbeiten. Ein entscheidender Impuls war 1904 die Internationale Kunstausstellung in Düsseldorf, wo Lehmbruck das Werk des französischen Bildhauers Auguste Rodin (1840-1917) kennenlernte.
Ähnlich wie Rodin orientierte sich Lehmbruck zunächst an einer klassizistischen Formensprache. Doch er entwickelte schnell seinen ganz eigenen Stil. „Bei Lehmbruck ist das Menschenbild nicht mehr dem Naturalismus verpflichtet, sondern dem Blick nach innen“, erklärt Dinkla. Während Rodin sich für die Physis des Menschen und dessen körperliche Präsenz interessiert habe, sei Lehmbruck einen anderen Weg gegangen. „Er zeigt den Menschen so wie er ist, wenn er sich in seine Gedankenwelt vertieft und sich aus dem Geistigen heraus definiert.“
Damit nahm Lehmbruck den entscheidenden Schritt in die Moderne. Daran knüpften andere Künstler an wie etwa Marcel Duchamp und Alberto Giacometti, der die für Lehmbruck typische Längung der Figuren weiterentwickelte. Auch Joseph Beuys nannte Lehmbruck als wichtigen Einfluss.
Seine fruchtbarsten Jahre erlebte Lehmbruck, nachdem er 1910 mit seiner Familie nach Paris gezogen war. Seine in sich gekehrten, vergeistigten Figuren zeichneten sich durch ihre überlangen, schmalen Glieder aus. Den Durchbruch schaffte Lehmbruck mit der „Knienden“, die er 1911 im Salon d‘Automne in Paris präsentiert. Internationale Anerkennung erlangte er, als die „Kniende“ zwei Jahre später in der durch New York, Boston und Chicago tourenden Armory Show gezeigt wurde, einer bedeutenden Kunst-Schau. „Die Kniende gilt heute als der Inbegriff der Moderne“, sagt Dinkla.
Nationalsozialisten galt seine Kunst als entartet
Die Pariser Jahre, in denen er auch ein malerisches und druckgrafisches Werk schuf, endeten 1914 abrupt mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Lehmbruck musste Frankreich verlassen und zog nach Berlin, wo er kurze Zeit als Sanitäter arbeitete. Später wurde er als Kriegsmaler in Straßburg eingesetzt. Wegen seiner Schwerhörigkeit wurde er jedoch bald aus dem Kriegsdienst entlassen.
„Er hat den Krieg als etwas absolut Inhumanes erlebt“, sagt Dinkla. Während des Krieges schuf Lehmbruck Skulpturen, die er selbst als Helden verstand. Die niedergeschlagenen, in sich gekehrten Figuren wie etwa der „Gestürzte“ und der „Sitzende Jüngling“ entsprachen den Vorstellungen seiner Zeitgenossen von siegreichen Heroen jedoch ganz und gar nicht.
Lehmbruck suchte Abstand zum Kriegsgeschehen und siedelte 1916 nach Zürich über. Er wurde von Depressionen geplagt. Auslöser für seinen Suizid am 25. März 1919 in Berlin war seine unerwiderte Liebe zu der jungen Schauspielerin Elisabeth Bergner.
Unter den Nationalsozialisten galt Lehmbrucks Kunst als entartet. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber bemühte sich seine Heimatstadt um sein Andenken. 1964 eröffnete in Duisburg das von seinem Sohn Manfred entworfene Lehmbruck Museum, das unter anderem über den Nachlass des Künstlers verfügt.
Anlässlich des 100. Todestages widmet sich das Museum den unterschiedlichen Menschenbildern Lehmbrucks und seines Vorbildes Rodin unter dem Titel „Schönheit. Lehmbruck & Rodin – Meister der Moderne“ bis zum 18. August. Eine zweite, bis zum 8. September terminierte Schau dort vermittelt Einblicke in die private und künstlerische Biographie des Künstlers.