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Zahlen sind nicht alles

In den Medien tauchen die Kirchen vor allem auf, wenn es um sinkende Mitgliedszahlen geht. Auch innerkirchlich beherrschen Zahlen oft die Debatte. Ein Grundzug der Bibel gerät dabei aus dem Blick

„Verdächtig leer scheint die Festwiese in Wittenberg am Sonntagmittag“, so war es in der Online-Ausgabe des Wochenblattes „Die Zeit“ kurz nach dem Kirchentag zu lesen. Die Kritik: „Horrende Kosten“ für den Abschlussgottesdienst in der Lutherstadt bei geschönten Zahlen. Statt der vom Veranstalter angegebenen 120 000 Teilnehmer seien vermutlich nur 50 000 dort gewesen. Seitdem reißen die Berichte über erneuten Mitgliederschwund und mangelndes Interesse am Reformationsjubiläum nicht ab.
Dass ein Großteil des sogenannten Mitgliederschwundes auf die Altersentwicklung zurückgeht und andere große Institutionen genauso trifft, ist ein alter Hut. Dennoch: Die reißerischen Überschriften machen sich einfach besser. Viele Medien betrachten zudem die Entwicklung der Kirche kritisch; das sei ihnen unbenommen. Aber: Leider wird auch innerkirchlich immer mehr auf Zahlen geschaut.
Dabei ist der Glaube nicht messbar, und die Anzahl der Mitglieder sagt wenig aus über die Strahlkraft der Kirche. Zumal viele Gottesdienste nicht schlechter besucht werden. Der Abbruch vollzieht sich eher im Bereich der Randgemeinde. Die war immer schon so etwas wie ein deutscher Sonderfall.
In Großbritannien, den Niederlanden oder den USA gehören nur etwa 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Im Nachkriegsdeutschland dagegen waren es mehr als 90 Prozent. Das ist wohl auch durch die besondere Geschichte Deutschlands Anfang des 20. Jahrhunderts zu erklären. Dieser Randbereich bröckelt seit den 1970er Jahren ab.
Schon im Jahr 1711 textete der Liederdichter Friedrich Konrad Hiller: „Du rufest auch noch heutzutage, dass jedermann erscheinen soll; man höret immer deine Klage, dass nicht dein Haus will werden voll“. Diese Klage ist also nicht neu. Und es hilft auch nicht, dagegen anzuschreiben oder anzupredigen.
Es ist der Kirche schlichtweg nicht verheißen, dass sich alle Menschen zu ihr zählen.
Vielleicht gilt vielmehr, was von Jesus überliefert ist. Er sagt zwar bei Matthäus „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“, erklärt aber im gleichen Evangelium: „Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind‘s, die ihn finden!“ Und im Gleichnis vom Sämann fällt nur ein Viertel der Saat auf „gutes Land“.
Der Auftrag der Kirche ist klar: Möglichst vielen Menschen das Evangelium verkünden. Ihre Bedeutung jedoch allein an Zahlen zu messen, ist falsch.
Die reformierte Waldenser- Kirche in Italien etwa hat mit ihren nur rund 50 000 Mitgliedern einen großen gesellschaftlichen Einfluss. Weil es ihr gelingt, sich mit gelebtem Christentum und Einsatz für Liebe, Toleranz und Freiheit Gehör zu verschaffen. Was die Zukunft der Kirche insgesamt angeht, waren sich Reformierte und Lutheraner übrigens schon immer einig: Dass es letztlich nicht in der Hand der Menschen liegt, sie zu erhalten, sondern allein in Gottes Hand.