Suizidhilfe wird zunehmend zur Normalität. Die Zahlen steigen – wenn auch nicht so stark wie bei den europäischen Nachbarn. Oft wird Lebenssattheit als Begründung für den Sterbewunsch angegeben.
Das Paar ist bald 70 Jahre verheiratet – und lebenssatt. Zu seinem runden Hochzeitstag wünscht es sich – den gemeinsamen “Freitod”. Die Familie sei einverstanden, erzählt Robert Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), am Dienstag vor Journalisten in Berlin. Und sagt, die entsprechende Bitte habe ihn sehr berührt.
Multimorbidität, Krebs und Lebenssattheit: Das sind die wichtigsten Begründungen, warum Bundesbürger im vergangenen Jahr die DGHS um Hilfe beim Sterben baten. In 623 Fällen verhalf die Gesellschaft ihren Mitgliedern zu einem Suizid. Das waren 205 mehr als im Vorjahr und rund 400 mehr als 2022. In 38 Fällen gab es solche Doppelbegleitungen.
Der Jurist geht allerdings auf nahe Zukunft hin nicht von weiter dramatisch steigenden bundesweiten Zahlen aus und spricht von einer “gewissen Sättigung”: Roßbruch schätzt, dass 2024 bundesweit insgesamt 1.200 Menschen mit Hilfe von Suizidbegleitern gestorben seien und erwartet einen Korridor von 1.000 bis 1.500 Suizidbegleitungen für die kommenden Jahre.
Neben der DGHS half laut Roßbruch der Verein Sterbehilfe Deutschland 171 Personen beim Sterben. Die Sterbehilfeorganisation Dignitas meldete 183 vollendete Suizidbegleitungen. Beide verzeichneten rückläufige Zahlen. Dazu kämen geschätzte mehr als 200 Sterbebegleitungen von einzelnen Ärzten, sagt Roßbruch. Damit liegt Deutschland deutlich unter den Zahlen in den Niederlanden, Belgien oder der Schweiz.
Bald fünf Jahre sind es jetzt her, dass das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 ein weithin nicht erwartetes Urteil sprach: Die Karlsruher Richter ließen die Arbeit von Sterbehilfevereinen wieder zu und bezeichneten das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Grundrecht und Ausdruck von Selbstbestimmung. Zugleich gestanden sie dem Staat das Recht zu, einen Rahmen zu schaffen, um Missbrauch von Suizidbeihilfe zu verhindern und zu garantieren, dass Suizidwillige eine selbstbestimmte und freie Entscheidung treffen.
Seither ist einiges passiert: Die Ärztekammern haben das Verbot der Beihilfe zum Suizid aus dem ärztlichen Berufsrecht gestrichen. Im vergangenen Mai hat das Bundesgesundheitsministerium eine geforderte Nationale Präventionsstrategie gegen Suizide veröffentlicht. Sie soll rechtzeitige Hilfen organisieren und klarstellen, dass die Gesellschaft Selbsttötung nicht als einen normalen Ausweg aus Krisen und Problemen ansieht.
Der vom Bundestag ebenfalls verlangte Gesetzentwurf zur Suizidprävention hat es im Dezember noch durch das Kabinett geschafft – liegt aber wegen der Wahl auf Eis. Gescheitert ist das Parlament mit dem Ziel, einen rechtlichen Rahmen dafür zu beschließen, wie die Freiverantwortlichkeit von Suiziden sichergestellt werden kann. Dem Parlament lagen drei parteiübergreifende Gesetzentwürfe mit Beratungspflichten, Schutzfristen und einem Vier-Augen-Prinzip bei den Ärzten vor. Eine Einigung gab es nicht.
Auch in den beiden großen Kirchen hat es Debatten über den Umgang mit der neuen Rechtslage und die Bewertung von Suiziden gegeben. Während Teile der evangelischen Kirche signalisierten, sie könnten der Selbstbestimmung am Lebensende durchaus etwas abgewinnen, blieben Vertreter der katholischen Kirche weithin bei ihrem Nein zum Suizid.
Ganz konkret wird die Frage, wenn es um Beihilfe zum Suizid in kirchlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Altenheime oder Hospizen geht. Katholische Träger lehnen es weithin ab, dass Sterbehelfer in den kirchlichen Einrichtungen Menschen zum Suizid verhelfen. Evangelische Träger seien da liberaler, sagte DGHS-Präsident Roßbruch am Dienstag in Berlin. Die DGHS will das strikte Nein der Katholiken nicht akzeptieren. Das habe nämlich zur Folge, dass man sterbewillige Bewohner aus dem Einrichtungen herausholen müsse, um ihnen beim Suizid helfen zu können.
“Das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben steht über dem Hausrecht katholischer Träger”, unterstrich der Präsident kämpferisch. Die DGHS will deshalb noch in diesem Jahr mit einem konkreten Fall aus Wiesbaden vor Gericht klären lassen, dass auch Bewohner in katholischen Einrichtungen Suizidbeihilfe erhalten können. Wenn nötig auch höchstrichterlich.