An der Nordseeküste von den Niederlanden bis nach Dänemark haben Wasser, Wind und der Mensch eine ganz besondere Landschaft geschaffen. Es lohnt, sie zu besuchen – und sich für ihren Erhalt stark zu machen.
Knallgrün, knackig und leicht salzig im Geschmack. Der Queller macht Lust auf mehr – und das Meer, an dessen Rändern er wächst. Wie winzige Tannenzweige sprießen die Pflanzen aus der Familie der Fuchsschwanzgewächse auf den Sandbänken entlang der Küste von Sankt Peter-Ording in Schleswig-Holstein.
Der Queller gehört mit zum Bild einer ganz eigentümlichen Region. “Ein amphibisches Gebiet zwischen Land und Meer”, wie es der kürzlich verstorbene Ökologe Hansjörg Küster in seinem letzten, im Frühjahr erschienenen Buch “Das Watt. Wiege des Lebens” schreibt. Man könne sich, so Küster “durchaus entschließen, das Watt weder dem Land noch dem Meer zuzuordnen”.
Seit 2014 gehört das Wattenmeer entlang der Nordseeküste von den Niederlanden über Deutschland bis Dänemark mit einer Fläche von rund 11.500 Quadratkilometern zum Unesco-Welterbe. Ein komplexes Ökosystem, in dem sich Pflanzen wie der Queller oder Tiere wie Wattwurm, Herzmuschel, Strandkrabbe, Wattschnecke oder Nordseegarnele in einer Umgebung behaupten müssen, die in regelmäßigen Abständen durch Salzwasser geflutet wird oder bei Ebbe den Einflüssen von Wind und Regen, Frost und Sonne weitgehend schutzlos ausgeliefert ist.
Die Herzmuscheln beispielsweise leben eingegraben im Sand, um einen stabilen Standort zu haben und sich vor Fressfeinden zu schützen. Eine Etage tiefer haust die Sandklaffmuschel. Nach der letzten Eiszeit kam sie nur noch an der Ostküste der heutigen USA vor. Irgendwie schaffte sie dann den Weg zurück in die Nordsee. Ein fleischiger Rüssel ragt aus der länglichen Muschelschale. Wird der Rüssel berührt, schießt wie auf Kommando ein kleiner Schwall Wasser heraus.
“Versteckspiele” und “Warnschüsse” sind eine Möglichkeit, im Wattenmeer zu bestehen. Eine andere: die Produktion von Abertausenden Nachkommen. Allein der Schlickkrebs ist pro Quadratmeter mit unzähligen Individuen vertreten. Die Krebse teilen sich diesen Platz unter anderem mit bis zu 100.000 der ein bis maximal sechs Millimeter großen Wattschnecken.
Jede Menge Würmer tragen mit “Kotpillen” – Algen mit der Aussonderung von Schleim – zur Bildung des Schlickwatts bei. Wer bei einer der vielen geführten Touren durchs Watt wandert, watet also in einem Ozean aus organischer Materie. Hinzugefügt sei: Je steifer die Brise, desto wohliger fühlt sich der Schlamm an, der Füße und Waden wärmt.
Zugleich tut sich vor dem Besucher eine unendliche Weite auf. Das helle Gelb und Weiß des Sandes paart sich mit dem Dunkelbraun des Schlicks. Wolken jagen am Himmel entlang. Ein stürmischer Wind bläst Sandkörner über den von einem Riffelmuster durchzogenen Boden. Für einen langen Augenblick schaut alles wie in einer Wüste aus – wäre da nicht, ganz in der Ferne, Wasser, das definitiv keine Fata Morgana ist.
Man möchte am liebsten auf eigene Faust loslaufen, immer weiter in die Weite hinein. Ein leuchtend rot angestrichener Holzpfahl mit Notrufnummern und Warnhinweisen zeigt an, dass das keine gute Idee wäre. So gut wie jeder Wattführer weiß zudem von Wanderern zu berichten, die sich durch Leichtsinn und Selbstüberschätzung in große Gefahr brachten.
In ganz anderer Gefahr ist die Wattlandschaft als solche. Seit 1.000 Jahren durch den Menschen geformt, wird sie inzwischen durch den Menschen bedroht. Dünger, Müll, Öl und Dreck etwa gelangen direkt oder über Abwässer ins Meer. So steht es auf der Homepage der “Schutzstation Wattenmeer”. Allein durch den Autoverkehr landen demnach jährlich 150.000 Tonnen Stickstoff in der Nordsee. Und die Suche nach Rohstoffen macht auch vor der Küste nicht halt.
Sorgen bereitet den Naturschützern vor allem der Klimawandel. “Machen wir so weiter und setzen Treibhausgase im bisherigen Umfang in die Atmosphäre frei, steigt das Meer bis 2100 um 80 Zentimeter, und schon zur Mitte dieses Jahrhunderts werden wir verstärkt die Folgen unseres Handelns an der Nordseeküste zu spüren bekommen.” Bis zu 75 Prozent der Wattflächen könnten verloren gehen.
Auch Deutschlands nördlichste Forschungseinrichtung beobachtet das Geschehen sehr genau. Vor genau 100 Jahren wurde die Wattenmeerstation Sylt gegründet. Heute ist die Station mit rund 45 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in die Stiftung Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) integriert und sammelt Daten, um die Veränderungen an der Nordseeküste besser zu verstehen.
Letzten Endes geht es bei solchen Projekten nicht nur um den Schutz der Tier- und Pflanzenwelt – sondern auch um den Erhalt eines uralten Kulturraums. “Weltweit leben nur am Wattenmeer der Nordsee Menschen auf Warften, künstlichen Hügeln inmitten der Halligen”, schreibt Buchautor Küster. Keine Frage: Wer das alles einmal vor Ort erlebt hat, kehrt verzaubert wieder zurück.