Sorgsam cremt sich Ivonne Altmann die Füße ein, bevor sie in Socken und Wanderstiefel schlüpft. So gibt es hoffentlich keine Blasen. Die Zelte sind nach einer Nacht mit Sturm und Regen zumindest halbwegs getrocknet. Ivonne Altmann und die anderen vier Frauen haben sie schon verpackt. Auf einem Feld in Reppenstedt bei Lüneburg machen sie sich bereit für die nächste Etappe der „Mut-Tour“. „Wir sind so etwas wie Pilgerinnen“, sagt die 48-Jährige. „Wir haben eine Mission.“
Die „Mut-Tour“ wirbt für mehr Offenheit und Wissen im Umgang mit Depressionen und ging am Dienstag in Osnabrück zu Ende. Seit dem Start Anfang Juni haben sich bundesweit zumeist Sechser-Teams aus Menschen mit und ohne Depressionserfahrungen auf den Weg gemacht. Zusammen haben sie rund 3.800 Kilometer quer durch Deutschland zurückgelegt – auf Tandem-Rädern und auch zu Fuß. Die Gruppe, die an diesem Tag in Lüneburg ihren Informationsstand aufbauen will, ist dabei die Einzige, die mit zwei Pferden unterwegs ist.
Die polnische Kaltblutstute Kliwia und der irische Tinker Hunter knabbern noch das Gras am Feldrand und warten darauf, beladen zu werden. Gunta Zvidrina hat die Begleitpferde mitgebracht. Für die Übernachtungen auf dem siebentägigen Weg von Hamburg-Harburg nach Uelzen hat sie Quartiere ausgesucht, die Platz für Mensch und Tier bieten – zumeist campieren sie auf Bauernhöfen.
Als Ivonne Altmann vor zwei Jahren das erste Mal eine „Mut-Tour“ mitgegangen ist, war Hunter auch dabei. „Das war ein Wendepunkt“, sagt die 48-Jährige, die selbst Depressionserfahrungen hat. „Ich hatte mir vorher nichts mehr zugetraut.“ Doch die Wanderung in Gemeinschaft und mit dem großen Pferd habe ihr Kraft gegeben. „Danach war ich anders.“ Das Kaltblut sei ungerührt auch über eine Fußgängerbrücke über die Autobahn getrottet. „Von Hunter habe ich Gelassenheit gelernt.“
2012 hat Sebastian Burger die erste Mut-Tour organisiert. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto „Mut zur Selbsthilfe – Unterstützung sichtbar machen“. Silvia Strebska tippt auf die Aufschrift an ihrer Schirmmütze: „Mutatlas“. Auch für diese Internetseite mit leicht zugänglichen Informationen zu Hilfsangeboten werben sie.
Bewegung in der Gemeinschaft, das ist laut Initiator Burger ein Ziel der Mut-Touren, an denen nach seinen Angaben insgesamt schon rund 250 Menschen teilgenommen haben. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe berichtet jeder zweite Mensch mit einer Depression von großer Einsamkeit. Das sind doppelt so viele wie bei den nicht Betroffenen. Gründe dafür lägen im krankheitsbedingten sozialen Rückzug. Bei der „Mut-Tour“ sind die Teilnehmenden auch stellvertretend unterwegs für diejenigen, denen es gerade schwer fällt, mit anderen zusammen zu sein.
Depressionen gehören laut der Stiftung zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Bundesweit erkranken demnach jedes Jahr 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression. Gedrückte Stimmung bis hin zur Freud- und Gefühllosigkeit und das Fehlen von Interesse sind die Hauptmerkmale. Hinzu kommen meist ein permanentes Erschöpfungsgefühl, die Neigung zu Schuldgefühlen, hartnäckige Schlaf- und Appetitstörungen und das Gefühl der Ausweglosigkeit bis hin zu Suizidgedanken.
Ivonne Altmann, Silvia Strebska, Gunta Zvidrina und ihre Wanderkameradinnen wollten auf ihrem Weg auch mit einseitigen Bildern bei dem noch immer mit Tabus behafteten Thema aufräumen. „Der erste Schritt ist, darüber zu reden“, sagt Altmann. „Und zwar auch so darüber zu reden, dass die Leute verstehen, wie schlimm das ist.“ Viele Menschen mit Depressionen funktionierten zum Beispiel in ihren Beruf weiterhin gut. „Aber innerlich sieht es ganz anders aus.“ Nötig sei professionelle Hilfe. „Man darf das nicht allein mit sich ausmachen.“
Gunta Zvidrina ist zur Mut-Tour gestoßen, weil sie mit dem Initiator Burger befreundet ist. „Ich wollte immer schon mit meinen Pferden mal Tag und Nacht zusammen sein“, sagt sie. Über Depressionen wusste sie vorher wenig. „Ich bekomme jetzt viel erzählt und weiß, wie wichtig das ist.“ Die gemeinsame Wanderung bedeute für sie aber vor allem auch Spaß. Ein Abenteuer, sagt sie und führt ihre inzwischen bepackte Stute einen Feldweg entlang: „Und wir kommen als Heldinnen zurück.“