Manchmal braucht es Visionen, um Dinge zu ändern. Und Frauen und Männer, die an ihren Visionen festhalten – trotz widriger Umstände.
Die Einigung Europas – das war vor etwa 100 Jahren eine solche Vision. Mit der politischen Realität hatte sie nach dem Ersten Weltkrieg rein gar nichts zu tun. Trotzdem gab es einen Mann, der von dieser Idee beseelt war: Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi. Der japanisch-österreichische Schriftsteller, Philosoph und Politiker, der vor 50 Jahren, am 27. Juli 1972, starb, gründete 1924 mit der „Pan-Europa-Union“ die erste europäische Einigungsbewegung. Er träumte von einem Staatenbund von Portugal bis Polen auf der Grundlage eines „christlich-abendländischen Wertefundaments“. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand sein Name für den europäischen Gedanken schlechthin. Dafür wurde er 1950 als erster mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet. Coudenhove-Kalergi war es auch, der Beethovens Neunte als Europa-Hymne durchsetzte. Seine Idee für die Flagge fand allerdings keine Mehrheit. Er hatte ein Kreuz vorgeschlagen.
Ob es Zufall ist, dass sich heute kaum jemand an diesen Mann mit dem sperrigen Namen erinnert? Oder liegt es daran, dass Europa den Menschen heute kein Traum mehr wert ist? Weil ja schon vieles erreicht ist. Und weil es momentan zuhauf andere Probleme gibt.
Wir haben wieder Krieg in Europa. Dazu die Corona-Pandemie, Energie-Notlagen, die Klimakrise, der weltweite Hunger. Politik und Gesellschaft sind überfordert von all dem. Verständlicherweise. Da wächst in bestimmten Kreisen wieder der Glaube daran, dass das Heil nur im eigenen Land zu finden sei. Risse gehen durch die Europäische Union, nationale Eigeninteressen machen sich breit. Die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der Union lässt nach. Das hat leider schon vor den aktuellen Krisen begonnen. Brexit lässt grüßen…
Ja, in dieser Situation fällt es in der Tat schwer, übergeordnete Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren. Wir sind auf dem Boden der Tatsachen angekommen.
Was Coudenhove-Kalergi (oder die anderen Mütter und Väter der Europäischen Union) jetzt wohl zu sagen hätte? Seine Idee aus den 1920er Jahren weitergedacht, würde er sich vermutlich heute für eine noch größere Europäische Union aussprechen. Eine, die möglicherweise sogar Russland mit einschließt. Denn seine Ideen von vor 100 Jahren waren ja nicht weniger utopisch.
Vielleicht ist das realpolitisch betrachtet aktuell kompletter Nonsens. Aber sollten wir deshalb aufhören zu träumen? Von einem besseren Europa, einer besseren, einer friedlicheren Welt? Wohl nicht.
Wer nur den realen Problemen hinterherläuft, wird nichts wirklich Wesentliches verändern. Darum braucht es weiterhin Menschen, die Visionen haben und einen langen Atem. Frauen und Männer, die an etwas glauben, das größer ist als sie selbst. Die auch dem Ex-Kanzler Helmut Schmidt widersprechen würden, der Leuten mit Visionen empfahl, zum Arzt zu gehen.