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„Wir bedeuten ihnen nichts“

Im Nahen Osten leiden Christen besonders unter Terror und Vertreibung. Wieso reagieren wir darauf so distanziert, fragt sich der Theologe Michael Diener

Sebastian Backhaus

Wo bleibt der Aufschrei angesichts der Christenverfolgung im Nahen Osten, fragt der Theologe Michael Diener. Christen im Westen nähmen das Leid ihrer Geschwister etwa in Syrien und Irak eher stillschweigend zur Kenntnis. Das darf nicht so bleiben, fordert der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, der auch Mitglied im Rat der EKD ist.

Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich – verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fernzuhalten. Wir bedeuten ihnen nichts.“
Mir hat der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani in ­seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 15. Oktober 2015 diese Worte ins Herz gebrannt. Er zitierte den damaligen Leiter der Gemeinschaft Mar Musa in Syrien, Pater Jacques Mourad, der kurz nachdem er diese Sätze einer französischen Freundin geschrieben hatte, von den Schergen des IS entführt worden war.
„Wir bedeuten ihnen nichts“ ist eine Anklage gegenüber einer westlichen Welt, der das Schicksal der nun seit vielen Jahren von Terror und Krieg bedrohten Menschen im Nahen und Mittleren Osten nicht besonders nahezugehen scheint. Aber es ist vor allem auch ein enttäuschter Aufschrei gegenüber einer christlichen Welt, die ihren eigenen Glaubensgeschwistern nur sehr begrenzt zur Hilfe kommt. Ja, die westlichen Kirchen haben den Kontakt zu ihren Geschwisterkirchen weithin nicht verloren, eine relevante öffentliche Aufmerksamkeit für deren teils genozid-ähnliche Notlage konnten sie jedoch zu keiner Zeit erzeugen.
Während ich diese Zeilen schreibe, nehme ich wahr, dass ganz unterschiedliche Menschen aus meinem Bekanntenkreis gerade ­nahestehende Familienangehörige verloren haben. Ich spüre deren Trauer, die in ihrem jeweiligen Ausmaß doch einzig und allein in der Nähe zu den Verstorbenen begründet ist. Da gehören Menschen zusammen, oft ein Leben lang, teilen Geschichte und Geschichten und hatten noch so viel miteinander vor.
Ist denn die sogar im Glaubensbekenntnis verankerte „Gemeinschaft der Heiligen“ nur ein Lippenbekenntnis? Sind unsere verfolgten christlichen Schwestern und Brüder uns wirklich „Familie“? Leiden wir als „Glieder am Leib Christi“ miteinander?
Kein Familienmitglied muss sich dafür entschuldigen, dass „familiäres Leid“ noch einmal existenzieller wahrgenommen wird. Das vertiefte Mitleiden in einer Familie ist sogar eher ein fruchtbarer Humus, aus dem Solidarität und Mitgefühl für alle bedrohten Menschen wachsen kann.
Mich beschwert, dass ich viele Themen nennen könnte, welche die westliche christliche Welt momentan mehr beschäftigen als die Verfolgung ihrer Glaubensgeschwister, besonders im arabischen Raum. „Bedeutung“ hat immer etwas mit tatsächlichen Prioritäten zu tun und so gesehen ist es wahr: „Sie“ bedeuten uns nicht viel.
Das darf nicht so bleiben. Wir können für unsere Geschwister beten, in gemeinsamen Aktionen die politisch Verantwortlichen zu einem, den Schutz aller verfolgter Menschen vorrangig verpflichteten, gemeinsamen Handeln im Nahen und Mittleren Osten auffordern, Betroffene über Hilfswerke konkret unterstützen und uns hier in unserer eigenen Nachbarschaft informieren und einsetzen. Christliche Nächstenliebe endet nicht an den Grenzen der eigenen Religion, keinesfalls. Aber sie beginnt bei den eigenen Glaubensgeschwistern. Wie soll das Ende gut werden, wenn wir den Anfang nicht be-Herz-igen?

Der Beitrag erschien zuerst in „Die Kirche“, Berlin. S. Kommentar S. 5.