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Wenn Sterne zur Familie gehören

Zweimal verloren Amina und Stefan Wege ein Kind schon früh in der Schwangerschaft. Ein Erfahrungsbericht

Wenn ein Kind während der Schwangerschaft oder der Geburt stirbt, ist das für die Eltern in den allermeisten Fällen eine Katastrophe – und nach wie vor ein Tabu in der Gesellschaft. Der zweite Sonntag im Dezember ist unter dem Motto „Worldwide Candle Lighting“ der Gedenktag für verstorbene Kinder; weltweit werden um 19 Uhr Kerzen ins Fenster gestellt.

Vater, Mutter, eine Tochter und zwei Sterne. So beschreiben Amina und Stefan Wege ihre Familie. Denn bevor Tochter Milana vor zwei Jahren geboren wurde, hat Amina Wege zwei Fehlgeburten erlebt, beide Male um die siebte Schwangerschaftswoche herum. Diese beiden Sternenkinder sind jetzt auf dem Mindener Nordfriedhof in einem speziellen Grabfeld für still geborene Babys beerdigt.

Die Weges sitzen nebeneinander auf dem Sofa ihres gemütlich eingerichteten Wohnzimmers und halten sich an den Händen. Ab und zu legt Amina Wege die andere Hand auf ihren Bauch – das Paar erwartet das zweite Kind Ende Dezember. Inzwischen sind vier Jahre seit der zweiten Fehlgeburt vergangen. Die beiden können gefasst von der schweren Zeit erzählen, und das möchten sie auch: „Ich fände es schön, wenn wir anderen mit unseren Erfahrungen helfen könnten“, sagt Stefan Wege. „Denn über das Thema wird ganz wenig geredet. Es passt ja auch so gar nicht in den natürlichen Lauf der Dinge.“

Der Moment, in dem die Welt stillsteht

An den Moment, in dem sie vom Tod ihres ersten ungeborenen Kindes erfahren haben, erinnern sich beide ganz genau. Die Frauenärztin hatte bereits eine Woche zuvor etwas skeptisch gewirkt, als sie im Ultraschall keine Herztöne fand. Aber sie hatte das Ehepaar vertröstet – nach einigen Tagen werde sie noch einmal schauen. „Diese Woche hat sich ewig angefühlt“, erinnert sich Amina Wege. Beim nächsten Termin kam die Ärztin dann schnell zur Sache. „Leider kein Herzschlag“, erklärte sie den Eltern.

„Das saß dann erst mal“, sagt Stefan. „Für mich war da nur eine große Leere“, erinnert sich Amina. Von der Ärztin gab es wenig Mitgefühl; sie ließ die beiden allein und kam dann mit der Überweisung für eine Ausschabung am nächsten Tag zurück. „Ich hatte das Gefühl: Die nehmen mir mein Baby weg“, erzählt Amina, „aber ich konnte ja nichts machen, es musste ja sein!“

Die Mindener Pfarrerin und Krankenhausseelsorgerin Melanie Drucks hat schon oft von diesem Gefühl der absoluten Ohnmacht gehört, wenn sie Eltern begleitet, deren Kinder still zur Welt kamen. „Eine stille Geburt wirft die Lebensordnung durcheinander“, sagt sie. „Bei älteren Menschen weiß man, dass sie sterben werden – aber wenn Geburt und Tod in eins fallen, fühlt sich das widernatürlich an. Für die meisten Eltern ist das die maximale Katastrophe.“ Zusätzlich zur Trauer würden viele Eltern auch von einem Wechselbad der Gefühle überfallen, derer sie sich im ersten Moment manchmal gar nicht bewusst würden: Trauer, Wut, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, Sehnsucht … Und bei vielen Müttern dazu noch die Frage nach der Schuld: „War ich nicht vorsichtig genug, habe ich etwas falsch gemacht?“ Das gelte auch dann, wenn die Schwangerschaft schon sehr früh beendet würde, so wie bei dem Ehepaar Wege. „Es kommt nicht darauf an, wie lange das Kind im Bauch gewachsen ist, sondern welche Beziehung die Eltern zu ihm entwickelt haben“, so Drucks.

Für Amina und Stefan Wege war diese Bindung bereits sehr eng. „Wir brauchten keine Kinder für unser Glück, aber es war unser großer Wunsch, welche zu bekommen“, erklärt Amina. Daher nahm sie die Schwangerschaft von Anfang an bewusst und voller Vorfreude wahr, zumal ihr Körper sehr schnell auf die Veränderungen reagiert hatte.

„Das war doch schon Leben!“

Nach dem Schock der Todesnachricht erlebten die beiden die Umstände rund um die Operation in einer ambulanten Klinik als zusätzlich belastend. Zunächst konnten sie noch zusammen im Wartezimmer sitzen; später wurde Amina allein in den OP-Bereich geholt, wo sie eine weitere Stunde warten musste, um dann unter Vollnarkose operiert zu werden. Und dann? „Man wacht auf und denkt: Das war’s“, erinnert sie sich.

Ihr Mann, der sie nicht begleiten durfte, sagt: „Ich wusste nicht, wohin mit mir – ich war ja so hilflos.“ Um wenigstens irgendetwas zu tun, suchte er im Internet nach Informationen über die Krankenhaus-Seelsorge und bekam so Kontakt zu Melanie Drucks. Von ihr erfuhr er von der Möglichkeit, auch Kinder zu bestatten, die in einem so frühen Stadium der Schwangerschaft sterben. Sie wie Müll zu behandeln, wie es noch bis vor einigen Jahren üblich war, wäre für sie unerträglich gewesen, sagt Amina Wege: „Das war doch schon Leben!“

Die Weges ließen ihr Kind auf dem Mindener Nordfriedhof bestatten, und Amina geht noch heute jedes Jahr zu dem ökumenischen Gedenkgottesdienst, den Melanie Drucks und ihr katholischer Kollege Wolfgang Ricke am Pfingstsonntag anbieten. Stefan ließ die Feier in dem Jahr, als Amina mit Milana schwanger war, aus,  – „das passte für mich zu der Zeit nicht zusammen“, sagt er, „die Angst bleibt eben doch immer“. In diesem Jahr war er dann wieder dabei.

Die Rituale und die Gespräche mit der Seelsorgerin hätten ihr gut getan, auch nach der zweiten Fehlgeburt, erzählt Amina Wege: „Das waren wichtige Zahnräder, die geholfen haben, mit der Situation klarzukommen.“

Dass Rituale wie eine gemeinsame Bestattungsfeier oder der Besuch des Grabes für die verwaisten Eltern hilfreich sein können, hat Melanie Drucks schon häufig beobachtet: „Selbst etwas tun zu können – nämlich eine schöne Beerdigung zu organisieren –, hilft mitten in aller Hilflosigkeit.“ Für die Seelsorgerin ist es außerdem wichtig, Müttern und Vätern die Möglichkeit zu geben, alle Gefühle zuzulassen und das innere Chaos etwas zu sortieren. „Sie dürfen alles aussprechen, alles fragen, alle Tränen weinen“, sagt Drucks. Sie selbst versucht dann, empathisch das auszudrücken, was sie wahrnimmt, denn:  „Was ich beim Zuhören verstehe und in Worte fasse, hilft den Eltern selbst beim Verstehen.“

Für Amina und Stefan Wege war es ein langer Weg, aus der Erstarrung der Trauer herauszufinden. Sie blieben mit ihrem Kummer zunächst zu zweit, erzählten erst allmählich der engsten Familie und noch später nahen Freunden von ihren Verlusten. „Ich wollte mich zukünftig nicht mit prüfenden Blicken auf den Bauch und den damit verbundenen Kommentaren und Nachfragen konfrontiert sehen“, erklärt Amina. „Stattdessen haben wir ganz viel miteinander geredet.“ Nach der zweiten Fehlgeburt fuhren sie spontan für ein Wochenende ans Meer. „Wir hatten da ein Zimmer mit Blick über den Deich“, erinnert sich Stefan. „Das gab uns das Gefühl: Wir können nach vorne schauen. Es geht weiter. Trotz allem.“ Heute kann Amina sagen: „Man kann wieder glücklich werden. Wenn ich anderen Frauen das weitergeben könnte – das würde ich gern.“

Gut aufgehoben: Menschen und Sterne

Zwei leuchtend gelbe Sterne, auf Holz gemalt, hängen bei der kleinen Tochter Milana im Kinderzimmer. Sie stehen symbolisch dafür, dass es zwei Kinder gibt, die in Mamas Bauch gestorben sind, und die jetzt als Sterne zur Familie gehören. Amina Wege trägt eine Perle mit einem Stern an einer Kette um den Hals. „Ich brauchte etwas, ein Symbol für diese Zusammengehörigkeit“, erklärt sie.

Und Stefan Wege sagt: „Ich glaube an Gott – nicht als Person, sondern als Zustand des Behütetseins. Und darin sind unsere Sterne auch aufgehoben.“