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Wenn es mit der Abschreckung ernst wird

Eine Militärseelsorgerin im Einsatz an der NATO-Ostflanke

Der Krieg in der Ukraine hat die Bedeutung der NATO wieder ins Bewusstsein gerufen. Seit Anfang Mai sichern 1700 Soldatinnen und Soldaten aus sieben Nationen in Litauen die Ostflanke des Bündnisses. Darunter ist auch die Militärseelsorgerin Alexandra Dierks.

Wenn Alexandra Dierks von ihrem Beruf spricht, kommt sie ins Schwärmen. „Mit den Soldatinnen und Soldaten leben und ihnen nahe sein – das ist das größte Geschenk dieses Berufes“, erklärt die Militärseelsorgerin. Normalerweise betreut sie militärisches Personal und deren Angehörige im niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf, dem Flughafen für Lufttransporte der Bundeswehr. Seit Anfang Mai ist die 54-jährige Theologin für drei Monate im litauischen Rukla im Einsatz – bei einem multinationalen Gefechtsverband zur Sicherung der NATO-Ostflanke. Über 1000 deutsche Soldatinnen und Soldaten gehören dem 1700 Personen starken Verband an, der von sieben Nationen gestellt wird und dessen Mission lautet: enhanced Forward Presence (zu Deutsch: verstärkte Vornepräsenz).

Für die Militärseelsorgerin ist in dem Standort Rukla 100 Kilometer nordwestlich der litauischen Hauptstadt Vilnius vieles anders als im heimischen Wunstorf. „Auf dem Fliegerhorst bin ich bekannt, hier im Baltikum fange ich von vorne an“, erzählt Alexandra Dierks. Sie nutzt deshalb jede Gelegenheit, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. „Sie müssen Vertrauen zu mir haben.“

Die Ukraine ist bittere Realität

Anders als zuhause erlebt die Militärseelsorgerin auch die Situation der Frauen und Männer in der Bundeswehr. „Die Soldatinnen und Soldaten beschäftigt hier, sich auf Einsätze der Landesverteidigung vorzubereiten wie Kämpfe um Ortschaften oder Panzerschlachten. “  Und Alexandra Dierks fügt hinzu: „Szenarien, von denen wir dachten, dass sie vorbei sind.“  Auf YouTube-Videos aus der Ukraine sei täglich zu sehen, was in solchen Schlachten passiert: „Die Ukraine ist kein Drehbuch, sondern bittere Realität.“

Bei einer großen über zweiwöchigen Übung im Mai haben unter deutscher Führung 3300 Einsatzkräfte aus zehn Ländern mit Schützenpanzern, Hubschraubern und anderem militärischem Gerät den Ernstfall trainiert. Denn der Verband, dessen offizieller Auftrag „die Abschreckung einer möglichen Bedrohung des NATO-Bündnisgebietes von außen“ ist, muss ständig einsatzbereit sein. Die Militärseelsorgerin konnte zwar nicht direkt bei der Übung dabei sein, da sie erst zu kurz im Land war. Doch sie begleitete die deutschen Soldatinnen und Soldaten punktuell. Diese erlebten die Übung unterschiedlich: „Manche mit großem Stolz auf ihr Können, weil sie entsprechend ihr Gerät beherrschen. Manche mit großer Besorgnis.“

Nach Beobachtung von Oberstleutnant Daniel Andrä, der den multinationalen Gefechtsverband in Rukla führt, ist der Gesprächsbedarf bei Soldatinnen und Soldaten gewachsen. „Menschen wie Seelsorger oder Ärzte finden manchmal einen einfacheren Zugang zu ihnen als Dienstvorgesetzte.“ Viele der Frauen und Männer, die für ein halbes Jahr im Baltikum im Einsatz sind, lassen Familie, Haus und Freunde zurück. „Der Rucksack, den sie tragen, ist oft schwer“, berichtet der Kommandeur des Gefechtsverbandes, der sonst ein Panzergrenadierbataillon in Mecklenburg-Vorpommern führt. „Gut, wenn es deshalb zusätzliche Personen gibt, die mit offenen Augen durch den Standort gehen und die Menschen begleiten.“ Neben aller Empathie hat Andrä dabei aber vor allem den militärischen Auftrag im Blick: „Wenn sich jemand um das seelische Wohl kümmert, erhält das auch die Kampfkraft.“

Gerne erinnert sich der Kommandeur des NATO-Gefechtsverbandes an eine am Karfreitag von der Militärseelsorge durchgeführte Feier am „Berg der Kreuze“ in Litauen. Die multinationale Truppe stellte ein Kreuz an dem Ort auf, der für den Willen der Litauer zur Unabhängigkeit und für ihre Religiosität steht. „Die halbe Stunde dort hat mir auch selbst gut getan“, erzählt der konfessionslose Kommandeur der multinationalen Truppe. „Einmal nicht an Dienst denken müssen.“

Apropos Konfession: Militärseelsorgerin Dierks, die vor zweieinhalb Jahren für einige Monate in Jordanien im Auslandseinsatz war, fragt bei Gesprächen nicht danach, welcher Kirche jemand angehört. „Ich bin für alle da“, so das Credo der Pastorin aus der hannoverischen Landeskirche. Niemand müsse erzählen, ob er glaube oder nicht. Als erstes fragt sie vielmehr: Kaffee oder Tee? Ihre Hauptaufgabe sieht die Theologin in Uniform mit Namenschild und Kreuz auf der Schulterklappe darin, „Menschen zu helfen, ihre Gefühle zu sortieren“.

Bibelgespräche und Spieleabende

Die Probleme, mit denen sich Soldatinnen und Soldaten an sie wenden, seien immer gleich: „Persönliche Situationen wie eine schwere Krankheit oder ein Todesfall und spezifisch dienstliche Anliegen wie Ärger mit einem Vorgesetzten.“ Manchmal würden auch private Probleme ins Dienstliche hineinschwappen. „Dann bemühe ich mich um hilfreiche Lösungen.“

Neben Einzelgesprächen bietet Alexandra Dierks, die einen unkomplizierten und offenen Umgang pflegt, auch Bibelgespräche und Spieleabende an. Sonntags lädt sie abends zum Gottesdienst in die „Little Church“ ein, einer Standortkirche aus Containern. Sie feiert ihn in Uniform mit Stola und umgehängten Kreuz. Zugewandt geht sie in ihrer Predigt auf die Situation der Soldatinnen und Soldaten ein: „Wir sind hier im Einsatzmodus, funktionieren. Das normale Leben, die normalen Beziehungen sind erst einmal weg.“ Geschickt schlägt die Militärpfarrerin dann die Brücke zu Himmelfahrt: „Jesus ist weg. Die Jünger müssen allein klarkommen. Er hat sie aber darauf vorbereitet.“

Musikalisch wirkt beim Gottesdienst die niederländische Militärseelsorgerin Charissa mit. Die deutsche Pfarrerin und ihre Kollegin, die Keyboard spielt, singen gemeinsam ein Lied. Alexandra Dierks arbeitet in Rukla mit Seelsorgern anderer Länder eng zusammen. Sie schätzt diese Form des Miteinanders beim multinationalen Gefechtsverband.

Oberfeldwebel Kevin S. besucht gerne die Standortgottesdienste, weil sie auf die Situation der Soldaten bezogen sind. „Jemand spricht das aus, was man sich sonst nicht zu denken traut.“ Der katholische Christ erlebt evangelische Gottesdienste als „lebensnah“. Für Stabsunteroffizierin Ricarda S. sind die Gottesdienste eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. „Man muss über einen langen Zeitraum funktionieren und nimmt dabei mitunter zu wenig Rücksicht auf sich selbst.“  Deshalb tue diese Auszeit im soldatischen Alltag gut.

Auch außerhalb der Gottesdienste ist die „Little Church“ geöffnet – als Ort der Stille. Diese Möglichkeit nutzen – so Oberstleutnant Daniel Andrä – auch Muslime oder Menschen, die keiner Religion angehören. Für den Kommandeur und die deutschen Soldatinnen und Soldaten ist der sechsmonatige Einsatz an der NATO-Ostflanke intensiv und wichtig zugleich. „Die Litauer sind froh und dankbar, dass wir da sind und zur Abschreckung beitragen“, berichtet Andrä. Der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche Litauens bestätigt das. Mindaugas Sabutis spricht von einer „riesigen Hoffnung und Verstärkung“, dass der multinationale Gefechtsverband im Baltikum ist. Dies habe Bedeutung nicht nur für die Litauer, sondern für ganz Europa: „Der russische Faschismus wird hier gestoppt.“

Frieden lässt sich nur politisch schaffen

Jeder Staat hat nach Ansicht der Militärpfarrerin das Recht, seine Bürger zu schützen. Dazu zähle auch die Abschreckung. „Der Preis für den Krieg muss so hoch sein, damit man ihn nicht beginnt.“ Frieden lasse sich nicht militärisch schaffen, sondern nur politisch: „Aber man muss Anderen militärisch begegnen, damit es politische Lösungen gibt.“

Trotz der besonderen Herausforderung an der NATO-Ostflanke ist Alexandra Dierks gerne als Militärseelsorgerin im Auslandseinsatz in Litauen. „Hier kann ich wirklich Pastorin sein“, sagt sie, „und das tun, wofür ich Pastorin wurde: Gottesdienste feiern und Seelsorgerin sein.“