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Wenn der Glaube ins Wanken gerät

Was gibt trotz Corona Kraft, Inspiration und Hoffnung? Ein Forscher sucht nach Antworten

Was hilft, um durch die Corona-Pandemie zu kommen? Zu dieser Frage forscht der Mediziner Arndt Büssing (59) an der Universität Witten/Herdecke. Wie Christinnen und Christen mit dunklen Zeiten umgehen können, erklärt der katholische Wissenschaftler im Gespräch mit Karsten Huhn.

 

Sie forschen zu Spiritualität in Zeiten des Coronavirus. Wie lautet Ihr Befund?
Arndt Büssing: In der Forschung geht man davon aus, dass der Glaube eine wichtige Ressource ist, um mit Krisen und Erkrankungen besser umzugehen. In der ersten Phase der Pandemie war das wohl auch der Fall. Jetzt dauert die Krise aber schon bald zwei Jahre, und die Datenlage hat sich deutlich verändert: Das Wohlbefinden ist stark abgefallen, die Stressoren angestiegen und die Ressource Glaube wird brüchig. Das Gebet wird weniger, und ein langsamer Verlust des Glaubens tritt ein.

Dabei heißt es doch: Not lehrt beten.
Das traf in den ersten Monaten sicher zu. Aber inzwischen fragen sich viele Christen: Stimmt das eigentlich, was ich glaube? Scheinbar nicht. Da kommt kein Gott, der mir hilft. Und unsere Kirchen haben uns auch nichts zu sagen. Denn viele haben versucht, in ihrer Kirche Halt zu finden, aber diese waren oftmals ebenfalls im Lockdown oder hatten zu Corona kaum etwas zu sagen.

Das hört sich erschreckend an.
Einige Kirchenvertreter sagten mir, dass sie selbst Angst hatten und ihre Gemeinde gar nicht unbedingt sehen wollten. Ein anderer meinte: „Über Corona wollen die Menschen nichts mehr hören.“ Aber das ist genau das Thema, was die Leute derzeit beschäftigt: Wie gehe ich mit meiner Angst um?

Welche Antwort geben Sie?
Es geht zunächst darum, zuzuhören und zu versuchen, diese Ängste und auch Glaubensunsicherheiten ernst zu nehmen. Es geht nicht darum, vorschnelle Antworten zu geben, wie „Alles wird gut“ oder „Gott ist immer bei dir“. Vielleicht gibt es derzeit keine guten Antworten. Wichtig ist aber, präsent zu sein. Wir versuchen trotzdem, Gottesdienste zu feiern – auch in dunklen Zeiten.

Sie beobachten eine „geistliche Trockenheit“. Wie lässt sich das geistliche Leben bewässern?
In Psalm 42,6 heißt es: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht.“ Also trotzdem zu Gott beten, auch wenn es gerade durch die Talsohle geht. Es ist normal, dass es im Glaubensleben zu Schwierigkeiten kommt. Dann hilft es, sich Hilfe bei anderen zu suchen. Wenn ich mich mit anderen verbinde, stelle ich fest, dass sie vielleicht ähnlich empfinden wie ich selbst. Dabei können auch das Telefon oder die digitalen Möglichkeiten helfen, in Kontakt zu bleiben und sich gegenseitig zu stärken. So lässt sich auch Einsamkeit etwas mindern.

Wird in den Gemeinden zu wenig darüber gesprochen, dass Gottesfinsternis zum Glauben dazugehört?
Ganz klares Ja. Unser Forschungsteam hat auch viele Interviews mit Ordensleuten geführt, und diese sagten uns: Über Glaubenskrisen wird in unserer Gemeinschaft kaum geredet. Dieses Thema ist immer noch mit einem Makel behaftet. Dabei wäre es ehrlich zu sagen, dass es im Leben auch dunkle Zeiten geben wird. Nur ganz wenige bleiben scheinbar davon verschont. Wir vergessen manchmal, dass es zwischen Karfreitag und Ostersonntag auch noch den Karsamstag gibt – eine Zeit des Wartens, der Ungewissheit und des Zweifels, durch die die ersten Jünger durchmussten. Deshalb ist es wichtig, auch Geschichten wie die vom Propheten Elia zu erzählen: Er saß unter einem Wacholderbusch und wusste nicht mehr weiter (1. Könige 19).

Elia war lebensmüde, er wünschte sich zu sterben.
Elia haderte mit Gott, er wollte eigentlich gar nichts mehr. Er wartete auf den Gott des Feuers, der im Sturm kommt. Doch der zeigte sich so nicht mehr. Gott kam ganz anders, als Elia gepredigt hat. Er kam als ganz leichter Hauch, der Elia sanft berührte. Gott antwortet nicht immer so, wie wir es erwarten. Wir können ihn auch nicht kontrollieren oder ihm mit Gebeten unseren Willen aufdrücken. Das Leben ist kompliziert, Gott ist nicht verfügbar, und der Glaube schützt nicht vor allem Leid dieser Welt – diese Einsicht gehört zu einem erwachsenen Glauben dazu. Und so heißt es in den Psalmen: „Trotzdem hoffe ich auf dich, Gott.“

Das kling erst mal ziemlich ernüchternd.
Ich denke, dass diese Ernüchterung zum Glauben dazugehört. Viele denken: „Wenn ich ganz viel bete, bin ich auf der sicheren Seite des Glaubens, und alles wird gut.“ Für einige stimmt das, für andere aber nicht. Und selbst Leute, die einen so starken Glauben haben, dass es für andere schon anstrengend ist, erleben Krisenzeiten und müssen da durch. Wir müssen lernen, dass Gott unverfügbar ist, also dass er ganz anders ist, als wir ihn wollen.

Im Moment gibt es weder politisch noch kirchlich besonders viele Zeichen, die hoffnungsvoll stimmen.
Dem stimme ich zu. Dennoch gibt es immer wieder kleine Initiativen und einzelne Personen, die Hoffnung machen. Vielleicht wird die Kirche weniger von der Leitung, sondern mehr von der Basis her erneuert. In der Kirchengeschichte kann man das immer wieder beobachten. Zum Beispiel lebte Franziskus (1181–1226) als Laie zunächst abseits der Kirche als Institution. Mit naiver Begeisterung gründete er eine Gemeinschaft Gleichgesinnter und überzeugte mit seinen Predigten und seiner Lebensweise viele Leute.

Hilft es, für andere da zu sein, um sich aus der eigenen Trockenheit freizustrampeln?
In unseren Untersuchungen fällt auf, dass viele Menschen, die die Phase der Trockenheit überwunden haben, sich mehr um andere Menschen kümmern. Das kann man auch sehr schön an Mutter Teresa (1910–1997) sehen. Sie wurde über Jahrzehnte von Zweifeln und dunklen Gedanken gequält. In ihrem Tagebuch klagte sie: „Man erzählt mir, dass Gott mich liebt, jedoch ist die Realität von Dunkelheit und Kälte und Leere so überwältigend, dass nichts davon meine Seele berührt.“ Dennoch hielt sie an Gott fest und kümmerte sich weiter um sterbenskranke Menschen in Kalkutta. Das Heilige der Schöpfung ist auch im Mitmenschen zu finden – wenn ich dafür offen bin, innezuhalten, hinzuschauen und zu helfen.

Derzeit ist alles grau und kalt. Verflüchtigen sich die dunklen Gedanken, wenn der Frühling kommt?
Die Jahreszeiten spielen sicher eine Rolle. Studien zeigen, dass depressive Verstimmtheiten im Winter stärker sind. Im Frühling keimt wieder Hoffnung auf. Die These ist schön, allerdings gilt sie nicht immer. Vor einem Jahr kamen im Frühling die zweite und dann die dritte Corona-Welle – was die Freude am Aufblühen der Natur deutlich dämpfte.

Wäre es klüger, sich auf ein langes Fortdauern der Pandemie einzustellen?
Ich will mich jetzt nicht als Prophet versuchen, aber ich bin mir unsicher, ob die Leichtigkeit, die wir in den Jahren vor der Pandemie erlebten, so schnell zurückkommt. Klug ist es, danach zu suchen, wie man dennoch seine Lebensfreude behält. Wir sollten uns fragen, was uns Kraft, Inspiration und Hoffnung gibt. Wer sich diese Frage nicht stellt, wird in seinem dunklen Loch leicht sitzenbleiben.

Was tröstet Sie in der Pandemie?
Meine Familie. Außerdem nehme ich mir Zeiten der Stille, in denen ich mich zurückziehe, lese oder Musik höre. Meine Frau ist da anders. Sie schleift mich öfter mit nach draußen, in den Wald. Dann stelle ich fest, dass es im Wald auch schön ist – sogar im Winter, wenn es grau und nass ist. Ich rate dazu, sich solche kleinen Zeit-Inseln zu schaffen, in denen man das macht, was einem guttut. Vielleicht auch ein kurzes Gebet am Abend.

Also eine Art täglicher Kurzurlaub.
Genau. Wer das bewusst machen kann, hat mehr Lebenszufriedenheit. Wer die Pandemie nur erleidet und erduldet, hat es schwerer. Die Art und Weise, wie wir die Pandemiezeit gestalten, entscheidet also mit darüber, wie es uns geht.

Wie lassen sich diese Auszeiten am besten füllen?
Je ritualisierter und regelmäßiger, desto besser. Das gibt dem Tag eine Struktur. Zum Beispiel eine bewusste Tee- oder Kaffeezeit. Ein „Coffee to go“ verführt dazu, dass wir den Kaffee bloß runterstürzen. Aber wie wäre es, wenn ich mir zu Beginn meiner Kaffeezeit erst mal eine Kerze anzünde? Das signalisiert mir, dass jetzt eine besondere Zeit nur für mich ist. Beim Aufbrühen kann ich den Geruch der Bohnen genießen und beim Trinken dem Kaffee nachschmecken. Ich könnte sogar noch weitergehen und mich fragen: Wo kommt der Kaffee eigentlich her? Wie geht es der Frau, die meinen Kaffee gepflückt hat? Diese bewusste Art der Reflexion kann mich dankbarer für all das machen, was selbstverständlich scheint.

Dankbarkeit hilft einem durch die Krise?
Eine Krise ist ein schmerzhafter Prozess. Dankbarkeit selbst in Krisenzeiten ist etwas, was meist nicht sofort gelingt, sondern gelernt werden muss. Bei den ersten Malen wird mein Kaffee so schmecken wie immer, und ich frage mich vielleicht, was diese Übung eigentlich soll. Aber je mehr ich mich darauf einlasse, desto besser wird sie mir gelingen. Und mit der Zeit freue ich mich schon auf meine Kaffeepause am nächsten Tag. Auch Personen mit depressiver Gestimmtheit könnten ein Dankbarkeitstagebuch führen. Selbst an durchwachsenen Tagen ist nicht alles schlecht. Im Gegenteil: Man kann immer wieder zurückblättern und das Besondere, das einen bewegt hat, erinnern. Denn diese Zeiten gibt es ja auch, aber sie werden zu schnell vergessen.