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Wenn das Herz stolpert

Eine Mutter, die durch den Terroranschlag am Breitscheidplatz im Jahr 2016 ihren Sohn verlor, beschreibt uns den Weg ihrer Trauer, die dritte Reha in einer Trauma-Klinik und die Akzeptanz dessen, was sich nicht rückgängig machen lässt

Von einer Mutter, die ihren Sohn verlor

Wie geht es einer Mutter heute, deren Sohn getötet wurde, bei dem terroristischen Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin, am 19. Dezember vor fünf Jahren?

Kaum erträglich ist für mich die Vorstellung, am 5. Jahrestag wieder vor den Stufen zu stehen, in denen auch der Name meines Sohnes eingraviert ist, da er sich unter den Opfern befand.

Über die Tage nach dem Attentat, bis zur offiziellen Bestätigung, dass sich der vermisste Sohn unter den Opfern befand – über diese Tage legte sich so etwas wie eine gnädige Stille, über mein Herz und meinen Kopf. Keine Gefühle, kein Schmerz, keine Tränen, das Notwendige tun, das getan werden muss, auch für eine Mutter nach einem solchen Schicksalsschlag – sich fügen – das Unvermeidliche akzeptieren… 

Wie fühlt sich Trauer an? Wie die große Leere, die sich immer mehr in meinem Kopf ausdehnt, wenn ich nicht mehr weiterweiß? Wenige Tage vor dem ersten Jahrestag bescheinigte ein Gutachter mir, einer Mutter, die ihr Kind bei einem terroristischen Attentat verlor, eine ­normale Trauerreaktion und keinen messbaren Grad einer Schädigung …

 Es gibt einen Weg, Trauer zu verdrängen: An jedem Tag einen Grund zur Freude suchen. „Eine frische Tasse heißen Kaffee am Morgen“, so schrieb mein Sohn einmal in sein ­Tagebuch, „und dem Leben vertrauen!“ Für mich ist es immer wieder der frühe Gesang eines Vogels oder das Aufspüren des ersten Veilchens unter der Hecke, wo eine kleine Kolonie auch im Vorjahr üppig blühte. Aber dann – immer wieder Worte, Bewertungen, Urteile, der zunehmende gefühlte Verlust von Menschlichkeit in der Welt …

Wenn das Herz stolpert

Was jedoch schrecklicher ist als alle Äußerlichkeiten, ist die Einsamkeit, die entsteht, wenn man sich selbst nicht mehr fühlt, Hoffnung und ­Lebensfreude sich verlieren, und das Herz zu stolpern beginnt. Entgegen eindeutiger Studien der Deutschen Herzstiftung, dass Vorhofflimmern auf Dauerstress hinweise, wurde mir attestiert, meine Erkrankung sei ­alters- oder genetisch bedingt …

Nach einer dritten Reha in einer Traumaklinik im Herbst dieses Jahres schöpfe ich nun langsam wieder mehr Zuversicht und Vorfreude auf ein gelingendes Leben. Und ich habe gute Gründe für diese Annahme.

Ja, auch an dem Ort, an dem der LKW in die hell erleuchteten Stände des Weihnachtsmarktes mit seinen Besuchern bretterte, zwölf Menschen tötete und viele verletzte, gibt es Zeichen, die Hoffnung nicht aufzugeben, auf eine friedlichere und lebenswerte Zukunft für alle Menschen. Zum einen gibt es dort einen Riss, den goldenen Riss, der sich von der Straße über die Stufen des Mahnmals hinaufzieht bis zum ­Plateau vor der Kaiser-Wilhelm-­Gedächtniskirche. Der Riss wurde während des ersten Jahresgedenkens ausgegossen, mit ein wenig Gold für jeden getöteten Menschen. Ihre Zahl erhöhte sich leider vor kurzem durch den Tod eines Erst­helfers auf 13 Opfer.

Steht der Riss nicht für grundlegende Widersprüche? Er trennt und gleichzeitig verbindet er zwei Teile, die zu einem Ganzen gehören. Er erinnert mich an die Zeit, als Berlin eine geteilte Stadt war, als an einer Mauer mit Stacheldraht scharf geschossen wurde … Der Riss dient mir auch als Symbol für die Realität der deutschen Wiedervereinigung, eine Wiedervereinigung, die über still brennende Kerzen in Fenstern ­verwirklicht wurde, genährt vom brennenden Wunsch in den Herzen vieler Menschen, bis zum Öffnen der Mauer …

Und immer noch beschäftigt mich: Wie kann ein Gutachter in einem einstündigen Gespräch unterscheiden zwischen einer normalen Trauerreaktion und der Trauer einer Mutter, die bei einem terroristischen Anschlag einen Sohn verloren hat?

Zugang zu Hilfen erschwert

­Allein die immer wiederkehrenden Berichte im Fernsehen und in den Medien, bei denen der LKW mitten zwischen den Ständen des Weihnachtsmarktes gezeigt wird, lassen ein Verblassen meiner Emotionen nicht zu. Auch der Kopf kommt nicht zur Ruhe, da viele Fragen und Ungeklärtheiten, die in den Untersuchungsausschüssen auftauchten, bis heute nicht vollständig geklärt werden konnten. Bedrückend ist auch die hohe Zahl von Fällen, bei denen Angehörigen und Verletzten der Zugang zu dringend benötigen Hilfen durch bürokratische Hürden erschwert und auch verweigert wird. 

Ein weiterer wichtiger Grund für Hoffnung und Zuversicht für mich ist: Seit vielen Jahren besuche ich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wenn ich in Berlin bin. Das geheimnisvolle Blau der Glasfenster mit den kleinen farbigen Einschlüssen zieht mich wie magisch an, besonders, wenn die Sonne hindurchscheint. Ja, und dann ist es die Gestalt des goldenen Christus, der segnend seine Hände hebt. Hier komme ich zur Besinnung, an diesen Ort flüchte ich mich und werde getröstet, auch wenn ich an den steinernen kalten Stufen vorbei muss, von denen eine den Namen meines Sohnes trägt. 

Der goldene Riss führt mich hindurch und hinauf, in das Blau des Himmels und das Versprechen: „Du bist willkommen und geliebt.“ Und gilt das nicht für uns alle, unabhängig davon, auf welcher Seite des Risses wir uns gerade einmal befinden? Nach meiner Erfahrung kann ich immer nur einen Schritt nach dem anderen tun. Wie könnte ich immer wieder getröstet werden, wenn ich nicht zuvor das Dunkel der Trauer durchleben würde? 

Großen Dank an alle Weggefährten und Freundinnen, lasst uns alle Kerzen anzünden …