„Und wo war hier eigentlich der Osten?“ – diese Frage hören wir oft am Erinnerungsort Berliner Mauer von den Touristen an der Bernauer Straße. Meist gehen dieser Frage Gespräche voraus, die beide berühren: Die Erzählenden, vom ost-west-gemischten Team der Kirchenhüter an der Kapelle der Versöhnung, und die Zuhörenden. Das Fragen und Antworten geht oft weit hinaus über Technisches – zum Beispiel wie hoch die Mauer gewesen ist und weshalb so viele gerade junge ostdeutsche Menschen damals ihr Leben riskierten, um sie zu überwinden. Biografische Tiefenschichten bewegt es, wenn wir berichten, welche Demütigung die Mauer in uns auslöste, allein durch ihr Dasein, und wie sie jahrzehntelang in unseren Angstträumen präsent war.
Gemeinschaftsgarten NiemandsLand eint Menschen aus der ganzen Welt
Wenn wir gerade am Zaun stehen, vom Gemeinschaftsgarten „NiemandsLand“ hinter der Kapelle, kommt eine Erzählung hinzu: Vom Widerstand gegen das erstarrte DDR-System bei den vielen Demonstrationen der 80er Jahre, bis hin zum Sturz der Mauer. Dass jetzt im Garten unter der Herbstsonne die Blumen vielfarbig blühen , das Obst reift und Gemüse geerntet wird – gehört irgendwie zu der Widerstandserzählung dazu, denn der Garten, als Nachhaltigkeitsprojekt, wächst im ehemaligen Todesstreifen. Die 55 Gärtnernden kommen aus 16 Ländern und wohnen beiderseits der Bernauer Straße.

Vor diesem Hintergrund verblasst für mich unsere Ost-West-Vergangenheit. Hier verabreden sich Leute aus Italien, Brasilien, China, Polen, Russland und der Türkei für die Gartenarbeit und das Gießen, wenn sie im Urlaub sind. Manche, wie aus dem Irak, Syrien und Palästina, haben ihre eigenen Geschichten von Aufbrüchen aus verlorenen Heimaten, traumatischen Fluchterlebnissen und einem Nie-Ankommen in der Fremde.
Not lindern und Wege zum Frieden suchen
Erst recht ist für mich die Ost-West-Frage seit dem 24. Februar 2022 in den Hintergrund gerückt. In und an der Kapelle sprechen wir das Versöhnungsgebet von Coventry jede Woche in den Sprachen Ukrainisch, Russisch und Deutsch. Ja, wir Ost- und Westdeutschen kommen aus unterschiedlichen Systemen, und man merkt es uns dort Aufgewachsenen heute noch an. Wie wir etwa in Gremien, von den Gemeindekirchenräten bis zur Landessynode, kommunizieren, uns die Hand geben oder nicht, wie wir dominieren oder den Kürzeren zu ziehen gelernt haben.
Jedoch gibt es angesichts der ungeheuren Herausforderungen durch die Migrationsbewegungen der Gegenwart und durch den russischen Krieg gegen die Ukraine eine uns einende Aufgabe: Not zu lindern und Wege zum Frieden zu suchen. Das fängt mit Gesprächen an, die Schwarz-Weiß-Denken vermeiden und der Trauer Raum geben.