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Was junge Menschen von Bonhoeffer lernen

Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg hat sich drei Tage lang in ein Lern-Labor verwandelt. Rund 250 junge Menschen haben sich an dem Ort versammelt, an dem der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer am 9. April vor 80 Jahren von den Nazis hingerichtet wurde. Sie stellen Fragen wie: Wer war der Mensch Bonhoeffer eigentlich und welche Relevanz hat er für das eigene Leben? Gekommen sind sie auf Einladung der bayerischen evangelischen Landeskirche und der Evangelischen Jugend in Bayern (EJB).

Die Stimmung unter den jungen Leuten ist offen und zugewandt. Dennoch ist den meisten die Ambivalenz des Ortes bewusst. Sie kommen aus Bayern und bei der internationalen Gruppe aus den Partnerkirchen in Schweden, Polen, Ungarn und Palästina. Nun diskutieren und arbeiten sie gemeinsam in den Seminarräumen der Gedenkstätte oder werden in kleinen Gruppen zu den konkreten Orten der Massenvernichtung über das Gelände geführt.

Für Silvan gehört das Erinnern zu seiner Familiengeschichte. Sein Urgroßvater wurde im Konzentrationslager ermordet, erzählt der 19-Jährige aus dem Dekanat Altdorf. „Wir haben zuhause seine Todesurkunde aus Buchenwald aufbewahrt.“ Auch wenn er seinen Uropa nie kennengelernt hat, möchte der junge Mann doch wissen, „was passiert ist, damit es nicht noch einmal geschehen kann“. Er will aktiv werden und hat bereits ein Seminar zur Stärkung der Demokratie besucht.

In der internationalen Gruppe werden unterdessen Fragen zu Bonhoeffer und seiner Theologie diskutiert. Wie geht verantwortliches Handeln, wenn die politischen Bedingungen die Menschen vor ein ethisches Dilemma stellen? Bonhoeffer nennt es eine Entscheidung zwischen „Falschem und Falscherem“ – so lautet auch der Titel eines Workshops -, wenn es einerseits heißt „Du sollst nicht töten“, und andererseits das Leid in und durch Nazi-Deutschland nur mit einem Tyrannenmord hätte beendet werden können.

Bonhoeffer kritisierte von Anfang an das nationalsozialistische Regime für dessen Rassenpolitik und wurde Mitglied der Bekennenden Kirche. Während des Krieges bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1943 arbeitete er als Kurier der militärischen Abwehr für den Widerstand. Nur zwei Wochen vor der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg durch die US-Armee wurde er auf Hitlers persönlichen Befehl hin ermordet – so wie weitere Widerstandskämpfer an diesem Tag. Kurz vor Ende des Krieges waren auf dem KZ-Areal bis zu 15.000 Häftlinge unter erbärmlichen Bedingungen eingepfercht.

Die Teamleitenden teilen Originaltexte Bonhoeffers aus, es wird Englisch gesprochen. „Wir wollen keine vorgefertigten Antworten geben, sondern zeigen, dass Bonhoeffer zur damaligen Zeit Entscheidungen treffen musste, die wir vielleicht irgendwann auch einmal treffen müssen, wenn wir in Situationen kommen, in denen wir nicht ohne Schuld herauskommen“, sagt Fritz Böß, einer der Teamleiter.

Wie sich Menschen angesichts des Bösen in der Welt verhalten sollten, dafür könne Bonhoeffer ein Vorbild sein, sagt der studierte Theologe weiter. „Nicht die Nicht-Intelligenten sind dumm, sondern die, die nicht lieben können, die keine Nächstenliebe für die Schwächsten empfinden“, so habe Bonhoeffer in seiner „Nachfolge“ die biblische Botschaft interpretiert. Dummheit mache Menschen verführbar, auch das habe Bonhoeffer früh erkannt.

Mit im Kurs sitzt die Theologiestudentin Sally aus Jerusalem. Sie findet, dass die Bonhoeffer-Texte auch heute geschrieben sein könnten. In ihrer Heimat im Westjordanland herrsche Krieg und Besatzung. Bonhoeffer gebe ihr „Rückenstärke“, sagt die evangelische Palästinenserin. Sie habe durch das Seminar gelernt, dass man Verantwortung von verschiedenen Seiten betrachten könne, von der kollektiven und der persönlichen Ebene. „Was auch immer in unserem Land passiert, wir müssen dafür aufstehen und eine Lösung finden“, sagt sie nun.

Bei der Jugendbegegnung sollen die jungen Menschen „in Kontakt mit anderen jungen Leuten und auch mit dem geschichtsträchtigen Ort kommen“, sagt Annabel Baumgardt, die Vize-Vorsitzende der Evangelischen Jugend. Noch Jahre später erinnerten sich viele positiv an diese gemeinsame Zeit.

Johanna (23) aus Ungarn hat bereits ein umfangreiches Programm absolviert. Ihr Kopf sei voll, sagt sie. Aber besonders habe sie fasziniert, dass Bonhoeffer „geradlinig und aufrecht bei seinem Glauben und seinen Gedanken geblieben ist – trotz des Naziregimes“. Sie fühle sich ermutigt, gerade als junge Theologiestudentin, „über meinen eigenen Weg nachzudenken und eigene Antworten zu suchen, so wie Bonhoeffer es getan hat“.

Bei der Jugendbegegnung scheint es in vielen Köpfen zu arbeiten. Für Gedenkstättenleiter Jörg Skriebeleit geht es genau darum. Das sei die große Chance der Gedenkstätten-Arbeit, wenn junge Menschen an einem ehemaligen Verbrechensort zusammenkommen, sagt er. „Es gibt kein nationales Gedächtnis, sondern es gibt miteinander konkurrierende Geschichtsbilder, die miteinander ausgehandelt werden müssen.“ Seit geraumer Zeit stelle die Gedenkstätte ihre Bildungsprogramme konsequent um – von Information und historischem Wissen hin zur Kommunikation. „Da sprudelt es nur so heraus aus den jungen Leuten.“

Der Theologiestudent Bartosz aus Polen würde ihm wohl zustimmen. Man sei hier zwar nicht an einem friedvollen Ort, wenn dort Menschen durch harte Arbeit im Steinbruch getötet wurden, aber es helfe, die Situation zu verstehen, sagt der 20-Jährige aus Warschau. Durch die eingehende Beschäftigung mit Bonhoeffer sei ihm klar geworden, dass dieser versucht habe, „ein neues ethisches System zu begründen“ angesichts von Holocaust und Shoa. Und schon muss Bartosz weiter, der nächste Kurs beginnt. (1200/08.04.2025)