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Was Habakuk noch fragen wollte

In der Karwoche gibt es ein westfälisches Youtube-Projekt. In den Hauptrollen: ein Rabe, ein Pastor und die Johannespassion.

„Iih, das klingt ja wirklich schief!“ Der Rabe Habakuk ist nicht begeistert von den ersten Takten der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Der pochende Bass, das unruhige Hin und Her der Geigen, und dann noch die scharfen Reibungen von Oboen und Flöten – Habakuk findet das alles ein bisschen gruselig. Und traurig. Und überhaupt fragt er sich: Ist ein 300 Jahre altes Musikstück, das ja schon längst nicht mehr in den Charts ist, heute eigentlich noch ernst zu nehmen?

Aber wo der Rabe sich nun schon einmal in die Video-Konferenz von Pastor Manuel eingehackt hat, will er mehr hören und mehr wissen: Wer ist dieser Bach, der das komponiert hat? Woher wusste er, wie sich die Menschen gefühlt haben, die mit Jesus zusammen die Passionsgeschichte erlebt haben? Und warum spielen eigentlich keine E-Gitarren und kein Schlagzeug mit?

Der Rabe Habakuk möchte es genau wissen

Pastor Manuel, der im echten Leben Manuel Schilling heißt und Superintendent des Kirchenkreises Soest-Arnsberg ist,  gibt dem vorlauten Raben geduldig Antwort: E-Gitarren gab es bei Bach noch nicht, dafür andere tolle Instrumente. Und Bach konnte die Gefühle der Menschen so lebhaft in Musik kleiden, weil er ganz viel darüber nachgedacht hat, wie das eigentlich zusammenpasst: Gott und Mensch, Schuld und Vergebung, Hass und Liebe.

Das hört man zum Beispiel gleich in den ersten Worten, die der Chor singt: „Herr! Herr! Herr!“ Da steigt die Stimme des Soprans von oben nach unten, um sich mit der Stimme des Basses zu treffen, die umgekehrt von unten nach oben steigt. „Je näher Gott vom Himmel herunter zu den Menschen kommt, desto mehr tut es ihm weh“, erklärt Pastor Manuel dazu. „Umgekehrt, je mehr Gott in die Tiefe geht, desto mehr kann der Mensch zu Gott nach oben kommen.“

Habakuk findet das ganz schön verwirrend. Trotzdem ist er gespannt darauf, was man noch alles in der Musik entdecken kann. Und so schauen sich Pastor und Rabe in acht Videoclips nach und nach Bachs monumentales Passionswerk an und versuchen herauszufinden, wie sich Theologie und Glauben darin widerspiegeln.

Eine Mammutaufgabe, zumal die Idee zu der Aktion erst im Februar in einer Sitzung des Theologischen Ausschusses der westfälischen Landeskirche spontan geboren wurde. „Wir wollten den Menschen in Corona-Zeiten etwas Tröstliches anbieten, und das können Töne manchmal besser als Worte“, erklärt Manuel Schillling.

Was in den Kurzfilmen so locker daherkommt, ist das Ergebnis harter Arbeit – für Schilling selbst, der den Text geschrieben hat; für seine Tochter Myriam, die die Handpuppe Habakuk zum Leben erweckt; für seinen Sohn Johann, Filmstudent und für das Video-Projekt Regisseur, Kameramann und Schneidetechniker in einer Person; und für die Musikerinnen und Musiker, die die Musik für die Videos passgenau aufgenommen haben.

Zwei Nachmittage lang traf sich dafür der Chor, bestehend aus vier Studierenden der Kirchenmusikhochschule in Herford, mit fünf Streichern der Nordwestdeutschen Philharmonie und einem Organisten unter der Leitung von Hildebrand Haake, Professor für Gesang und Chorleitung in Herford. Gefilmt wurde in der Aula der Kirchenmusikhochschule, mit reichlich Abstand und Lüftungspausen.

Takt für Takt entstanden hier die Tonbeispiele, die Pastor Manuel dem neugierigen Raben vorspielt. Manche Stücke werden sogar eigens in einzelne Stimmen zerlegt, damit Bachs bis ins Kleinste durchdachte Komposition noch deutlicher zu hören ist.

Der „Kreuzige“-Ruf etwa, mit dem die Menge den Tod Jesu fordert, wird von den Basstönen bis zum Einsatz der Chorstimmen allmählich aufgebaut. Und damit die brodelnde Stimmung in der Menge im Film so richtig rüberkommt, müssen die Musikerinnen und Musiker selbst ein bisschen schauspielern und mit dem „Kreuzige“ immer weiter an die Kameras heranrücken.

Für die vier Sänger ist es eine besondere Herausforderung, die schwierigen Einsätze ganz allein zu bewältigen. „Man muss sofort präsent sein, darf keine Angst haben“, beschreibt Sopranistin Katja Vorreyer. Dazu kommt die Aufnahmesituation: Statt wie gewohnt nur auf den Dirigenten zu achten, müssen alle sich zunächst nach dem Aufnahmeleiter richten, der Kameras und Ton freigibt.

Trotz der erschwerten Bedingungen – auch die weiten Abstände voneinander sind für die Musiker ungewohnt – ist die Freude am Musizieren zu spüren während der Aufnahmen. „Wir konnten zwei Monate lang nichts spielen“, erzählt die erste Geigerin Zilvana Schmilgun. „Das hier macht total Spaß!“ Da nehmen es alle geduldig hin, wenn ein Einsatz im Chor mal nicht stimmt oder einer der Streicher im Flow über die abgesprochene Taktgrenze hinwegspielt.

Während die Musiker ihren Part im geheizten Saal aufnehmen konnten, standen die Mitglieder der Familie Schilling noch vor anderen Herausforderungen: Sie zogen drei Tage lang durch ungeheizte Soester Kirchen, um für die Dialoge von Pastor und Rabe möglichst interessante und passende Hintergründe zu finden.

Verblüffende Film-Tricks in Soester Kirchen

Dafür hat Film-Experte Johann Schilling einige Tricks auf Lager. Zum Beispiel in der Wiesenkirche, wo Habakuk von der zwölf Meter hohen Empore ins Kirchenschiff fliegen soll. „Dazu musste Myriam erst alle Stufen hinauflaufen, um zu filmen, wie sie die Handpuppe von der Empore wirft“, erzählt Manuel Schilling. „Dann kam sie wieder runter, jemand anderes lief mit Habakuk hoch, und in der nächsten Szene sieht man, wie sie den Raben unten auffängt. Die Wirkung ist wirklich verblüffend.“

Als Vorbild für das Video-Projekt sieht der Pfarrer übrigens unter anderem die „Sendung mit der Maus“. In diesem Sinne fasst er die Botschaft der Johannespassion zusammen: „Wir Menschen sind schwach und können so böse sein. Aber Gottes Liebe ist größer als unser Hass. Wenn man das singt oder hört, dann geht das ganz tief ins Herz.“