Frankfurt a.M. (epd). «Irgendwann war es nur noch eine pragmatische Abwägung. Ich habe mich gefragt, was mir Kirche bietet und bin zu dem Ergebnis gekommen: nichts», sagt Henrike Herbst. Die 27-jährige Einbeckerin trat vor rund anderthalb Jahren aus der Kirche aus und wählt einen anschaulichen Vergleich, um zu verdeutlichen, dass sie die Kirche für ihren Glauben nicht braucht: «Ich bin sportlich», sagt sie, «und ich kann überall meinen Sport ausüben. Trotzdem bin ich Mitglied in einem Fitnesscenter. Warum? Weil es mir einen Mehrwert bietet.» Für Kirche gelte dies nicht. «Sie bietet mir null Mehrwert», sagt Herbst.
Wie Herbst ist auch Alexandra Kreutzmann in einer evangelischen Familie aufgewachsen. Taufe, Konfirmation, Kirchenfreizeiten: Ein fröhliches Gemeindeleben prägte Kindheit und Jugend der Frauen. «Kirche», sagt Kreutzmann, «ist Teil meiner Sozialisation.» Noch heute geht die 46-Jährige gern in Kirchen, freut sich über den offenen Adventskalender, schätzt die Angebote ihrer Heimatkirche für die Menschen während der Corona-Pandemie. Sie lebt nur wenige Meter von der Kirche entfernt, mit der sie einst so verbunden war; ihr Sohn Fabian wurde hier getauft. Dennoch trat sie 2018 aus. Warum? «Die Kirchensteuer gab den Ausschlag», sagt die Sozialpsychologin.
Diese Ambivalenz der Gefühle kennt auch Karolin Lemmer. Sie kehrte 2004 der Kirche den Rücken, ließ ihre Tochter jedoch taufen. «Ich wollte Ellie einen schönen Start ins Leben bereiten», sagt sie. Die alleinerziehende Mutter ist dankbar, dass die Kirche die Taufe ermöglicht hat. «Ich dachte, ich müsste dafür wieder in die Kirche eintreten, aber das war nicht der Fall.» Doch für die
Vertriebsingenieurin ist das nur die eine Seite von Kirche. Die Kirchensteuer empfindet sie als Zwangsabgabe. «Ich gebe gern – aber bitte freiwillig. Ich wäre auch bereit, für den Weihnachtsgottesdienst zu zahlen oder die Taufe, für Angebote der Kirche, die mir etwas bringen.»
Eine Reduzierung der Kirche auf eine simple Kosten-Nutzen-Analyse sieht der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack kritisch. «Natürlich haben die Angebote der Kirche auch einen Geldwert, aber sie gehen darin nicht auf», sagt er, «Kirche ist nicht einfach eine Organisation wie jede andere, kein Warenlager, in dem ich mich bediene und das nicht Passende aussortiere, sondern eine
Wertegemeinschaft oder, wie es das Glaubensbekenntnis sagt, eine "Gemeinschaft der Heiligen'.»
Was habe ich davon, wenn ich in der Kirche bin? «Sehr viel», sagt Pastor Stephan Lackner von der Wiedereintrittsstelle des Evangelisch-Lutherischen-Stadtkirchenverbands Hannover. Er hebt fröhlich einen Flyer mit dem Titel «Gute Gründe für den christlichen Glauben und eine Zugehörigkeit zur Kirche» in die Höhe: Seelsorge, Lebenshilfe, Besinnung, Gottesdienste, Trauerbegleitung,
Gemeindefeste, diakonische Angebote, Gesprächskreise, Angebote für Senioren, Familien und Jugendliche. Die Liste ist lang. Das entscheidende Argument für die Kirchenzugehörigkeit ist für Lackner das gemeinschaftliche Erleben des Glaubens, das Teilen von Sorgen, Zweifeln und Freude.
Der frühere langjährige Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Gerhard Wegner, betont, dass sich Religiosität und Kirche und die Lebensrealität vieler Menschen voneinander entfernt hätten. «Es fehlt häufig schlicht an Kenntnis, was Glaube und Religion bedeutet. Kirchen sind für viele inzwischen rein museale Räume», sagt er. Eine zentrale Zielgruppe für die christliche Alphabetisierung seien Familien. «Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Familienleben und religiöser Praxis», sagt der
Religionssoziologe. Bei Eltern und ihren Kindern anzuknüpfen, mache doppelt Sinn.
Zum einen, um an den christlichen Glauben heranzuführen, sagt Wegner. Zum anderen, weil festliche Rituale wie die Taufe die Brücke zu einer Gesellschaft schlügen, in der das Ego in den Fokus gerückt sei. «Kirche mahnt, an andere zu denken, sozial zu handeln, das holt gerade junge Menschen, die sich selbst und ihre individuellen Bedürfnisse am Wichtigsten nehmen, nicht ab.» Die Taufe sei auch deshalb so populär, «weil hier der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht und gefeiert wird. Das kommt in der heutigen Zeit an.»