Die römische Vergangenheit in Deutschland wird entschlüsselt: Forscher blicken dafür 2.000 Jahre zurück und wollen zeigen, was antike Funde verraten. Ein Projekt, das Jahrzehnte in Anspruch nimmt.
Ein Stein nach dem anderen, und am Ende ergibt sich ein Ganzes – Forscher betreiben im Landesmuseum Mainz ein besonderes Puzzle: Römische Steinarchitekturen führen sie dort zusammen und wollen damit aufzeigen, wie Städte in Deutschland im Römischen Reich womöglich einmal aussahen. Etwa 20 alte Steine seien es pro Woche im Durchschnitt, die der Altertumswissenschaftler Manuel Flecker und seine Kollegen von der Universität Mainz aktuell untersuchen: “Mit den Architektur-Gliedern konnten frühere Forscher oft weniger anfangen, weil diese auf den ersten Blick nicht mit einem Bündel an Informationen beeindrucken.”
Bei antiken Grabsteinen und Relief-Darstellungen sei dies anders, doch machten wohl damals wie heute unscheinbarere Architektur-Glieder den bedeutenderen Teil einer Stadt-Silhouette aus. So beeindruckt etwa das Wahrzeichen der römischen Stadt Trier, das antike Stadttor Porta Nigra, bis heute durch die weitgehend erhalten gebliebene Einheit seiner Tausenden Bauteile.
Rund 25.000 Einzelsteine und 5.000 Bauten sollen nun in einer langjährigen wissenschaftlichen Studie erfasst und in einer digitalen Version öffentlich zugänglich gemacht werden. Es wäre die erste umfassende architektonische Darstellung der Antike auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands.
In Mainz befasst sich ein Forschungsteam in den ersten Projektjahren zusammen mit der Generaldirektion Kulturelles Erbe, der Landesarchäologie Mainz und dem Landesmuseum Mainz unter anderem mit der Herkunft der Baumaterialien für das römische Mogontiacum. So lautet der antike Name der heutigen Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz.
Zahlreiche antike Steine fanden später in der Mainzer Stadtmauer neue Verwendung und blieben so erhalten. Fleckers Spezialgebiet sind die frühesten Steinmonumente, die in der Zeit von Kaiser Augustus um Christi Geburt zu datieren sind.
Augustus gilt auch als Gründer der römischen Kaiserstadt Trier, die in der Wissenschaft breite Beachtung findet. “Das Problem in Mainz ist, dass von der antiken Stadt wahnsinnig wenig bekannt ist”, so verdeutlicht Flecker die Herausforderung. Über die Jahrhunderte sei die Stadt überbaut worden – und römische Materialien wurden dabei wiederverwendet.
Ein solcher Fund ist etwa ein “Konsolgeison”. Dieser 1,5 Meter lange und 30 Zentimeter hohe Stein entstammt nach Einschätzung der Wissenschaftler einem Kranz-Gesims, welches wohl einst zu einem Grab gehörte. Gefunden wurde es allerdings im Bühnenraum des römischen Theaters als Teil des Fundaments.
“Das heißt, dieses Gesims war auf einem repräsentativen Grabbau mit fünf, sechs oder sieben Metern Höhe angebracht. Der wurde dann irgendwann abgerissen und das Bauteil wurde in einem neuen Kontext wiederverwendet. Das zeigt etwa die saubere Abarbeitung der älteren Ornamentik auf der einer Seite. Man sieht: da ist irgendwas passiert”, skizziert der Historiker sein Herangehen. “Im Theater in der Spätantike, also ungefähr 300 Jahre später, wurde das Gesims dann wahrscheinlich zum dritten Mal als Fundament wiederverwendet.”
Jeder Stein und jedes Bauwerk soll nach Form, Dekor und stilistischer Ausarbeitung untersucht und zeitlich so genau wie möglich datiert werden. Dazu tragen Bauwerke bei, die sich beispielsweise anhand von Inschriften fast aufs Jahr genau einordnen lassen und dadurch die weitere Zuordnung von Einzelsteinen erleichtern. “Denn oft sind es eben nur Einzelsteine, die von einem Bauwerk erhalten sind”, sagt Flecker. Das zeige, wie viel mit der Zeit verloren ging.
Dennoch sei das Ziel, alle gefundenen Steine zu erforschen. “Dann kann man am Ende vielleicht schon sagen; wie hat eigentlich die Stadt ausgesehen, und welche Bauten gab es, die wir bisher nicht kannten”, so der 46-Jährige. Noch bestehende römische Bauwerke könnten Hinweise geben, da sich dort etwa Verarbeitungsmethoden vergleichen lassen.
Steinbauten aus der Zeit der römischen Besiedlung sind auch heute noch in Deutschland zu finden und bezeugen das frühe städtische Leben hierzulande. Ruinen römischer Städte oder Bauten prägten nach wissenschaftlicher Annahme vielerorts die Landschaft bis ins Mittelalter.
Mehrere Jahre solle nun unter anderem in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz zu den Überbleibseln römischer Geschichte in Deutschland geforscht werden. Der offizielle Titel des Langzeitvorhabens lautet “disiecta membra” – zu Deutsch “versprengte Glieder”. Daran beteiligt sind auch die Römisch-Germanische Kommission in Frankfurt und die Philipps-Universität in Marburg.