So viel großflächig über Deutschland verteilten Schnee gab es lange nicht. Wenn das Verkehrschaos abklingt und die Gehwege geräumt sind, kommt am Wochenende die Zeit des Genießens. Eine Spurensuche im Neuschnee.
Wenn Schnee fällt, lässt das kaum jemanden kalt. Bei den einen werden Kindheitserinnerungen an Schneemann, Rodeln und Schneeballschlachten wach, andere freuen sich auf Sport und Spaziergänge in der Winterlandschaft. Schnee gehört für viele zum Wintergefühl dazu. Seit der Deutsche Wetterdienst 1881 seine Wetteraufzeichnungen begonnen hat, ist die mittlere Temperatur hierzulande um 1,6 Grad gestiegen. Deshalb sind die Chancen auf Flockenpracht in vielen Teilen Deutschlands gesunken.
Vorbei die Zeiten, als sich Kinder mehrmals im Winter nach der Schule den Schlitten schnappten und zum Rodelhang eilten. Sich Schneeballschlachten lieferten, Schnee-Engel in der weißen Landschaft entstehen ließen oder einen Schneemann bauten. Auch ein Spaziergang in einer frisch verschneiten Landschaft, die stiller wirkt als sonst, ist längst kein selbstverständliches Wintervergnügen mehr.
Die Ruhe einer Schneelandschaft ist übrigens wissenschaftlich erwiesen, erklärt Harald Garcke. Weil der Schall durch den Schnee absorbiert werde, komme einem die Welt “weniger lärmend” vor, so der Regensburger Mathematiker.
Er kann sich auch als Erwachsener für Schneeflocken begeistern – nicht nur in seiner Freizeit. Denn der 60-Jährige forscht über Kristalle und deren Wachstum. Praktische Anwendung findet seine Arbeit, etwa das Verhalten von Siliziumkristallen, beim Bau von Sonnenkollektoren.
Für Mathematiker ließen sich viele Phänomene mit Gleichungen berechnen, so Schneeliebhaber Garcke. Seine Überlegung: “Es müsste doch auch möglich sein, eine Gleichung für Schneekristalle zu entwickeln.” Aufgrund der sechs “Arme”, die eine typische Schneeflocke habe, sei es mit Simulationen am PC gelungen, “eine Vielzahl von Schneekristallen im Computer nachzubauen”. Kaum hatte er die Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, hatte Garcke seinen Ruf als Schneeforscher weg.
Kaum zu glauben, aber wahr: Jede einzelne vom Himmel tanzende Flocke ist in ihrer Form und Größe einzigartig. Die unendliche Vielfalt entsteht durch individuelle Fallhöhe, Luftbewegung, Temperatur und Luftfeuchte. Je größer die Fallhöhe, desto mehr Wasserteilchen lagern sich an. Die Flocke verzweigt sich weiter, wächst – und wird mit jeder Drehung und Wendung immer einzigartiger.
Identische Kristalle können laut Garcke nur unter Laborbedingungen entstehen. Am häufigsten verbreitet seien in der Natur “dendritische”, also verzweigte Kristalle. Es gebe aber auch säulenförmige Exemplare, “die kommen wie Nadeln runter und pieksen richtig”. Aber auch Platten- und Säulenformen entstehen.
Mit der Vielfalt von Schnee beschäftigt sich auch Anatol Stefanowitsch – genauer gesagt mit dem Mythos, dass die Inuit im Hohen Norden angeblich über 200 Bezeichnungen für Schnee haben. In den 1940er Jahren hätte sich die Linguistik erstmals ernsthaft mit Sprachen und Kulturen außerhalb Europas beschäftigt, so auch mit den Eskimovölkern. 200 Begriffe – die Menschen hätten das glauben wollen; es habe seinerzeit einen Trend zum “Romantisieren und Exotisieren” gegeben. Es wurde unterstellt, “diese Menschen würden sich so viel über Schnee unterhalten, dass sie diesem die unterschiedlichsten Bezeichnungen geben”.
Beim Wörterzählen gebe es grundsätzlich zwei Probleme, erklärt der Berliner Sprachwissenschaftler. Manche Sprachen, wie das Deutsche, nutzten zusammengesetzte Worte wie Schneefall und Pulverschnee. Zudem gebe es immer eine Insidersprache – “Skifahrer kennen mehr Schneeworte als Flachlandbewohner”.
Gegen die Wortvielfalt bei der polaren Bevölkerung spreche auch ein meteorologischer Fakt: “Im Nordpolarkreis schneit es nur wenig, es ist dort viel zu kalt”. Nur weil Menschen in Eis und Schnee lebten, müssten sie nicht automatisch viele Begriffe dafür haben. Im Isländischen habe er mit 16 “relativ viele” unterschiedliche Wörter für Schnee gefunden. Das Samische habe immerhin 100 eigene Begriffe in einer Liste dokumentiert.
Stefanowitsch plädiert dafür, “sich auf die Vielfalt im Eigenen zu besinnen”. Denn auch die deutsche Sprache kommt auf etliche Schneebegriffe wie Harsch, Firn und Griesel. Unterschieden wird zudem nach Alter und Konsistenz wie Pulver- oder Pappschnee und Schneematsch.