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Wahlen in Serbien unter Eindruck der Amokläufe vom Frühjahr

“Serbien gegen Gewalt” heißt die Bewegung, aus der ein vielversprechendes Parteienbündnis geworden ist. Denn der soziale Friede ist ein vordringliches Thema in dem Balkan-Land – nicht nur für die bevorstehenden Wahlen.

Und täglich grüßt Aleksandar Vucic. Ob in den Fernsehstudios, auf Wahlplakaten oder als Gesprächsthema in den Belgrader Cafes – vor dem Präsidenten gibt es in Serbien derzeit kein Entkommen. Dabei tritt der Staatschef weder bei den Parlaments- noch den Lokalwahlen am Sonntag (17.12.) an. “Vucic ist viel beliebter als seine Partei. Sie hat noch nie eine Wahl ohne seinen Namen bestritten”, erklärt der serbische Politologe Nikola Burazer. Allerdings wächst Widerstand gegen den Populisten.

Vor sieben Monaten begann in dem Westbalkan-Land eine neue politische Zeitrechnung. Am 3. Mai hatte ein 13-Jähriger das Feuer in einer Belgrader Schule eröffnet und etliche seiner Mitschüler und einen Wachmann erschossen. Keine 48 Stunden später erschütterte ein zweiter Amoklauf das Land. Insgesamt 18 Menschen starben. Seither kam es fast wöchentlich zu Massenprotesten unter dem Banner “Serbien gegen Gewalt”. Aus der gleichnamigen Bürgerbewegung ist mittlerweile eine Parteienkoalition erwachsen: Sie hat nicht nur gute Chancen auf den zweitgrößten Stimmenanteil im Parlament, sondern auch darauf, den nächsten Bürgermeister der Hauptstadt zu stellen.

“Ich habe zwei Teenager und es bereitet mir Sorge, dass sie in einem Land wie diesem aufwachsen”, sagt Jelena Jerinic. Die Parlamentsabgeordnete, die sich nun der Wiederwahl stellt, wurde zu einer führenden Stimme von “Serbien gegen Gewalt”. Wie viele ihrer Mitbürger räumt sie den regierungstreuen Medien des Landes eine Mitschuld an den Massakern ein: Von Vergewaltigungen über Schießereien bis Prügel huldigen die privaten TV-Sender der ganzen Gewaltpalette. Zu den von Vucic kontrollierten Boulevardmedien kommen Korruption, soziale Ungleichheit und eine Justiz, die für Regierungsvertreter oft beide Augen zudrückt. Tatsächlich hätten die Serben nach dem Sturz des sozialistischen Despoten Slobodan Milosevic vor 23 Jahren auf einen Neuanfang gehofft, sagt Jerinic. “Aber sie wurden enttäuscht. Sie sind komplett desillusioniert von der Politik.”

Vucic wehrt sich gegen die Vorwürfe. Er bezeichnet die neue Opposition als “endlos heuchlerisch”. Fest steht: Der Zwei-Meter-Mann mit Hornbrille polarisiert nicht erst durch die jüngsten Wahlwerbespots, in denen er einer Familie am Küchentisch die Vorteile seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) schmackhaft machen will. Er lenkt die Balkan-Politik seit den Jugoslawien-Tagen.

1993 ins Parlament gewählt, diente er als Milosevics Propaganda-Minister. 2017, vom sozialistischen Regime geläutert, wurde er zum Präsidenten gewählt. Und schafft geopolitisch einen in vielen Augen skurrilen Spagat: Als EU-Beitrittskandidat unterhält Serbien beste Beziehungen zu Peking und Moskau. Nicht zuletzt, weil er alle politischen Ebenen, Medien und sogar das religiöse Leben kontrolliere, kann man Vucic laut Politologe Burazer als “illiberalen Demokraten” bezeichnen – vergleichbar etwa mit Ungarns Präsidenten Viktor Orban.

Erste Prognosen für die Parlamentswahl sehen die neue, proeuropäische Opposition auf Platz zwei, hinter Vucics SNS. Auf den dritten Platz kommt demnach die Sozialistische Partei Serbiens (SPS). Deren Anführer Ivica Dacic setzt auf Jugoslawien-Nostalgie. Dazu holte er sogar Milosevic-Enkel Marko Milosevic mit auf seine Wahlliste. Ungeachtet der Tausenden Opfer in den Jugoslawien-Kriegen könnten die Sozialisten auch bei den Jungen punkten, erzählt die Demokratieaktivistin Sofija Todorovic: “Sie haben die Leugnungskultur übernommen, die von den politischen Eliten propagiert wird. Hinterfragt man ihre Standpunkte, wird jedoch schnell klar, wie wenig sie eigentlich wissen.”

Die Hoffnung auf einen Erdrutschsieg von “Serbien gegen Gewalt” haben selbst viele Oppositionelle aufgegeben. “Wir erleben gerade eine sehr schmutzige, unfaire und undemokratische Wahlkampagne”, berichtet Todorovic. Das plötzlich aufgetauchte Sex-Video eines Oppositionspolitikers, journalistische Enthüllungen von Stimmenkauf durch die Regierungspartei und eine Zivilgesellschaft, die Spionagesoftware auf ihren Mobiltelefonen findet – der SNS scheinen viele Mittel recht, ihr Machtmonopol zu halten. Auf dem Land ging sie derweil mit Brennholz auf Stimmenfang.

Politologe Burazer zufolge haben die Massaker vom Mai das Land verändert – unabhängig davon, wie sehr sich dies im Wahlergebnis widerspiegele. “Die größte Veränderung liegt darin, dass die Opposition Wähler mobilisieren und ihre Apathie brechen konnte. Die Leute sind bereit, auf die Straße zu gehen und dafür zu kämpfen, woran sie glauben.” Parlamentarierin Jerinic erwartet, dass “Serbien gegen Gewalt” zumindest in Belgrad siegen wird. Was das Parlament angeht, sei nach der Wahl mit noch mehr Einmischungen Vucics zu rechnen. “Er wird so leicht nicht aufgeben. Aber wir sind bereit.”