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Vorhöfe des Allerheiligsten

Wer um die Vorläufigkeit seiner eigenen Erkenntnisse weiß, kann Gewalt und Intolereanz besser widerstehen

Da wird der saudische Internet-Aktivist Raif Badawi wegen vermeintlicher Beleidigung des Islam zu 1000 Stockhieben und zehn Jahren Gefängnis verurteilt und findet auch vor dem obersten Gericht seines Landes keine Gnade. Das soll nichts mit Religion zu tun haben? Ebensowenig wie die Ereignisse 800 Jahre zuvor, als zigtausende Europäer mordend und brandschatzend Richtung Israel zogen, um ihre heiligen Stätten von den „Ungläubigen“ zu befreien?

Was der Tübinger Politikwissenschaftler und Friedensforscher Andreas Hasenclever da behauptet (siehe Seite 5), scheint – zumindest auf den ersten Blick – angesichts der historischen Faktenlage nur wenig überzeugend. Schließlich argumentieren doch die einen wie die anderen Täter – christliche Kreuzzügler und saudische Richter – mit Bibel und Koran in der Hand, weil sie wissen: Diesen Autoritäten hat niemand etwas entgegenzusetzen.
Tägliche Nachrichten bestätigen es leider ebenso wie Geschichtsbücher immer wieder: Oft waren und sind es gerade die Religionen und ihre Anhänger, die Konflikte entfachen: zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland, zwischen Hindus und Muslimen in Indien, zwischen Sunniten und Schiiten im Irak.
Da fällt es schwer, wie Hasenclever zu sagen, dass Religion nicht nur nicht das Problem sei, sondern sogar Teil der Lösung. Absurd ist das, möchte man meinen, bestenfalls ein Traum, ein Wunschtraum.
Dennoch: Vielleicht lohnt es sich gerade deshalb, gegen alle menschliche Erfahrung, diesen Gedanken aufzunehmen, der sich als eine logische Folge aus Hasenclevers Religionsbegriff erweist. Religionen, so sagt der Tübinger Forscher nämlich, gäben mithilfe von Mächten, „die nicht von dieser Welt sind“, Antworten auf menschliche Sinnfragen. Das sei ihr Kern. Wer aber den Glauben instrumentalisiere, um in den Krieg zu ziehen, praktiziert seiner Ansicht nach eine „halbierte Religion“, eine „Religion ohne Glauben“.
Also ist es am Ende doch immer der Mensch, der mit seiner Gier, seinem Neid, seinem Machthunger verantwortlich ist für Intoleranz, Unterdrückung, Gewalt und Kriege?
Was wäre dann die Chance der Religion?
Vielleicht die: dass sich ihre Vertreter der Menschlichkeit und damit Vorläufigkeit ihres eigenen Glaubens und Handelns bewusst werden. Wer, wie etwa Friedrich Heiler, einer der Wegbereiter der modernen Religionswissenschaft, weiß, dass es „viele Pforten und viele Vorhöfe“, aber nur „ein Allerheiligstes“ gibt, das wir erst nach unserem irdischen Dasein betreten, ist sicherlich besser gefeit gegen Gewalt und Intoleranz.
Solche Menschen könnten den Weg frei machen für mehr friedliches Miteinander. Wünschen wir, dass ihre Zahl wächst. Was sie dafür tun müssen, ist, das Gute in ihrer Religion zu suchen – in den Worten ihrer heiligen Schriften und in den Taten ihrer Stifter.
Dann könnten die Religionen im Sinne Hasenclevers tatsächlich zum „Teil der Lösung werden“.