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Vor 125 Jahren hielt Kaiser Wilhelm II. seine “Hunnenrede”

Wenn Politiker sich in freier Sprache ergehen, führt das manchmal zu Fremdschäm-Momenten. Ein markantes Beispiel stammt aus der Zeit des Kaiserreichs. Das Phänomen kommt aber leider auch in modernen Demokratien vor.

Wenn Deutschlands letzter Kaiser in Fahrt geriet, konnte ihn kaum mehr etwas stoppen. “Pardon wird nicht gegeben.” Mit markigen Worten stimmte Wilhelm II. vor 125 Jahren, am 27. Juli 1900, deutsche Soldaten in Bremerhaven auf die Niederschlagung des Boxer-Aufstandes in China ein. Wie die Hunnen mit kompromissloser Kriegsführung einst Angst und Schrecken in Europa verbreitet hätten, schwadronierte der Monarch, “so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen”.

Dass da etwas aus dem Ruder lief, merkten Außensekretär Bernhard von Bülow und Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst noch während der Ansprache des Kaisers. Offenbar wurden die anwesenden Journalisten dazu verdonnert, die Zitate nicht zu veröffentlichen und zu warten, bis die Regierung eine bereinigte Fassung der Rede herausgegeben hatte. “Es erwies sich jedoch als unmöglich, die Erinnerung aller Augenzeugen zu unterdrücken”, so der australische Historiker Christopher Clark.

Die Hunnen, die weiland auf dem Rücken ihre Pferde die halbe Welt eroberten, waren los – und galoppierten Jahre später, im Ersten Weltkrieg, durch die Propaganda der Alliierten. Am Anfang stand die verbale Entgleisung, dann folgte der mediale Kontrollverlust. Schließlich wurde der Hunne zu einem Schmähwort für die Deutschen. So schildert es der Tübinger Rhetorikprofessor Dietmar Till.

Seiner Ansicht nach ging es schon damals fast so zu, wie im modernen Social-Media-Zeitalter. Oft seien die von Stenographen verfassten Mitschriften in Windeseile über Telegrafenbüros ins ganze Reich verschickt worden. Wilhelm II., der so oft wie keiner seiner Vorgänger zu den Untertanen sprach, habe sich zudem kaum einhegen lassen. Ihm fehlte bei seinen öffentlichen Auftritten überdies nicht selten ein Gespür für das, was Christopher Clark “die Komplexität des Umfelds” nennt.

Das Problem war den Zeitgenossen durchaus bewusst. “Die große Redegewandtheit und die Art und Weise Euerer Majestät üben auf die Zuhörer und Anwesenden einen bestrickenden Einfluss”, schrieb ihm sein Berater Philipp Graf Eulenburg-Hertefeld 1892. “Bei der kühlen Beurteilung des Inhalts” ergebe sich jedoch ein anderes Bild. Im Klartext: Nicht selten wirkten Wilhelms Worte wie die Axt im Walde.

Dieser Typus Politiker ist keineswegs ausgestorben, wie Dietmar Till betont. US-Präsident Donald Trump spiele mit regelmäßigen sprachlichen Entgleisungen durchaus in einer ähnlichen Liga. Auch der ehemalige britische Premier Boris Johnson habe gern gemacht, was er wollte, “oft mit einem erstaunlichen Gespür für die Situation und für das, was passt”, so der Rhetorik-Experte. Immer wieder sei Johnson aber auch übers Ziel hinausgeschossen.

Trotzdem: Genau wie Wilhelm, dessen Wortschwall während der Hunnenrede bei Teilen seiner Zuhörerschaft durchaus auf Wohlwollen stieß, gelten Trump oder Johnson unter ihren Fans als direkt und unverstellt. Experte Till hält das für bedenklich. “Wir geraten in der Politik immer mehr in die Gefahr, dass die Rollen von Privatperson und Berufspolitiker nicht mehr getrennt werden.” Das werde gern mit dem Begriff “authentisch” umschrieben. “Aber ob ein authentisches Auftreten zugleich professionell ist, wage ich zu bezweifeln.”

Wilhelm II. jedenfalls waren Selbstzweifel weitgehend fremd, wie etwa aus einem Brief an den Prinzen von Wales, den späteren britischen König Edward VII., hervorgeht. “Ich bin der alleinige Herr der deutschen Politik und mein Land muss mir folgen, wo immer ich hingehe.” Da, wo der Kaiser hinspazierte, gähnte allerdings nicht selten ein Abgrund aus überzogenem Pathos und nationalen Überheblichkeitsfantasien.

Dafür steht nicht nur die berühmt-berüchtigte Hunnenrede. Zu Irritationen sowohl in Großbritannien wie auch in Deutschland führte 1908 beispielsweise auch ein verrutschtes Interview, das als “Daily-Telegraph-Affäre” in die Annalen einging. “Ich wollte,”, klagte Wilhelms Mutter Victoria bereits im Februar 1892, “ich könnte ihm bei allen Gelegenheiten, bei denen er öffentlich sprechen will, ein Schloss vor den Mund hängen.”