Magdeburg. Es ist der 9. Oktober 2019: In der Synagoge in Halle begehen mehr als 50 Menschen gemeinsam den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur. “Der heiligste Tag im Jahr, mein liebster Feiertag”, sagen Teilnehmer. Eine Gruppe von 20 Juden ist am Vortag extra aus Berlin angereist, unter ihnen mehrere US-Amerikaner. Sie wollen ein friedliches Jom Kippur feiern, nicht in der Großstadt, sondern bewusst in einer kleineren Gemeinde außerhalb. Der Gottesdienst dauert den ganzen Tag, bis zum Abend soll gebetet und gefastet werden. Doch bevor es Abend wird, zerstören Schüsse und Explosionsgeräusche die Atmosphäre – mitten in der Lesung der Thora.
Die Menschen in der Synagoge sehen über den Bildschirm einer Überwachungskamera zunächst nur einen Ausschnitt dessen, was sich auf der Straße vor dem Gelände abspielt. Es reicht, um zu erkennen, dass sie in Lebensgefahr sind. Der Rechtsterrorist Stephan B. attackiert die verschlossene Holztür zum Gelände, versucht in Kampfmontur, mit Sprengsätzen und Schusswaffen in die Synagoge zu gelangen, um dort möglichst viele Juden zu töten. Die Tür hält stand und wird zum Symbol für das “Wunder und die Wunde von Halle”, wie es später oft heißt.
Gläubige traumatisiert
Der Attentäter erschießt auf der Straße und in einem Döner-Imbiss zwei Menschen, verletzt zwei weitere Menschen mit Schüssen schwer, traumatisiert Gläubige, Angehörige der Opfer, Polizisten und Passanten. Seit dem 21. Juli muss er sich wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen vor Gericht verantworten.
Die Hauptverhandlung des Oberlandesgerichts Naumburg findet aus Sicherheits- und Platzgründen im Magdeburger Landgericht statt. 45 Nebenkläger gibt es. In den bisherigen 15 Prozesstagen wurden bereits mehr als 50 Zeugen befragt, darunter Überlebende aus der Synagoge, Polizisten, Opfer, Angehörige und Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Attentäters. Aus seiner antisemitischen Gesinnung machte der Angeklagte von Anfang an keinen Hehl. Seine schwer erträglichen Ausführungen zu Beginn des Prozesses führten auch zu einer Diskussion, inwieweit dem Täter damit eine Bühne geboten wird.
Er leugnet den Holocaust
Reue, Einsicht oder Empathie sind bei dem Angeklagten nicht zu erkennen. Er wollte nach eigener Aussage keine Weißen töten, aber in der Synagoge hätte er auch auf Kinder geschossen. Wenn er in der Verhandlung das Wort ergreift, geht es meist um waffentechnische Erklärungen und sein krudes Weltbild. Den Holocaust leugnet er. Einige der jungen Juden, die am Tag des Anschlags in der Synagoge waren, tragen durch familiäre Verbindungen noch am Trauma der Schoah. Das Attentat auf die hallesche Synagoge löste bei ihnen ein weiteres Trauma aus. Die meisten Zeugen leiden bis heute unter den psychischen und physischen Folgen der Tat.
Im Prozess wird deutlich, dass B. nicht nur zwei Leben ausgelöscht, sondern auch viele weitere Leben zerstört hat. Der Vater des Mordopfers Kevin S. versuchte, von Weinkrämpfen geschüttelt vor Gericht auszusagen. Der 44-Jährige, dessen 20 Jahre alter Sohn in dem Döner-Imbiss unweit der Synagoge erschossen wurde, sah noch am 9. Oktober 2019 das Tatvideo, das ihm ein Bekannter schickte. Der Angeklagte hatte den Anschlag mit einer Helmkamera gefilmt und live ins Internet gestreamt. Das Video zeigt beide Morde: Nachdem der Attentäter vor der Synagoge auf offener Straße zunächst die 40 Jahre alte Passantin Jana L. erschossen hatte, stürmte er in den Imbiss und tötet den 20-jährigen Malerlehrling, der in seiner Mittagspause nur einen Döner essen wollte.

Einige Zeugen zweifeln, dass das Umfeld von B. nichts von dessen Gesinnung und den Anschlagsplänen mitbekommen haben will. Der 28-Jährige lebte noch bei seiner Mutter in einer kleinen Wohnung im Kinderzimmer, bastelte Waffen im Schuppen seines Vaters. Die Familie von B. nutzte allerdings ihr Zeugnisverweigerungsrecht und äußerte sich nicht. Im Internet soll B. sehr aktiv gewesen sein. Die Auswertung von sichergestellten Dateien ergab, dass diese voll mit nationalsozialistischen, antisemitischen, homophoben und frauenfeindlichen Inhalten waren. Zudem soll B. auch Internetforen genutzt haben, in denen anonym derartige Inhalte geteilt werden. Darin soll auch der Attentäter von Christchurch (Neuseeland) glorifiziert worden sein. Ob B. Kontakte im Internet pflegte, blieb allerdings bislang unklar.