„Die Welt braucht starke Kinder“– unter diesem Titel hat Jürgen Thiesbonenkamp, ehemaliger Seemannspastor in Kamerun und von 2003 bis 2014 Leiter der „Kindernothilfe“, seine Erlebnisse mit der in Duisburg ansässigen Hilfsorganisation aufgeschrieben. In seinem in der Neukirchener Verlagsgesellschaft erschienenen Buch (196 Seiten, 16,99 Euro) berichtet er über das Leben von Kindern und Erwachsenen in Honduras, Indien, Sambia, Haiti und Somaliland. Die Probleme der Menschen sind so unterschiedlich wie die Länder selbst. Was sie aber verbindet, ist, dass es überall die Kinder sind, die am stärksten leiden. Andersherum zeigt das Buch: Da wo Kinder gefördert werden, gibt es Hoffnung auch für die ganze Gesellschaft. Mit Jürgen Thiesbonenkamp sprach Annemarie Heibrock über sein Buch, über die aktuelle Lage in Afrika und das Hilfsmodell der Patenschaften.
Als ehemaliger Seemanns–pastor in Kamerun und als langjähriger Leiter der Kindernothilfe kennen Sie den afrikanischen Kontinent sehr gut. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie jetzt die Bilder von hungernden Menschen, von hungernden Kindern im Südsudan oder Somalia sehen?
Man kann diese Bilder nicht betrachten, ohne emotional berührt zu sein. Was mich dabei besonders erschüttert, ist die Tatsache, dass die Probleme menschengemacht sind. Da stellt sich ein Gefühl der Ohnmacht ein. Wir wissen um die Ursachen von Hunger und trotzdem geraten immer wieder Menschen in solche Katastrophen. Und vielerorts, zum Beispiel im Südsudan, geschieht das vor allem deshalb, weil einzelne Gruppen in ihrem Kampf um Macht und politischen Einfluss keine Rücksicht nehmen auf die Bevölkerung. Und noch schlimmer: Die Gruppen, die um die Vorherrschaft kämpfen, haben dabei sogar in ihrem Kalkül, dass es internationale Hilfswerke gibt, die die Hungernden und Notleidenden nicht im Stich lassen.
Sie überblicken mehrere Jahrzehnte in der Entwicklungszusammenarbeit. Ist die Welt seit den 1970er Jahren für die Kinder ein besserer Ort geworden?
Ja. Im Bereich der Gesundheitsfürsorge sind große Fortschritte erzielt. Auch im Bildungsbereich ist viel geschehen. Dennoch bleibt der Analphabetismus eine große Herausforderung. Auch muss die Qualität der Bildung verbessert und auf die Lebenswelt der Kinder bezogen werden.
Welches sind denn Ihrer Erfahrung nach die vorrangigen Probleme, die Kinder in ihrer Entwicklung hemmen?
Die Kinder in den Großstädten leben oft in Gesellschaften mit einem enormen Gewaltpotenzial. Ihnen fehlt Stabilität – in der Familie und im weiteren sozialen Umfeld. Sie müssen sich im wahrsten Sinne des Wortes durchs Leben schlagen. Viele suchen ihren Ausweg aus Perspektivlosigkeit und Gewalt in der Prostitution, in der Kleinkriminalität oder im Drogenhandel, und werden so zur leichten Beute für kriminelle Banden, wo sie dann neue Gewalt-erfahrungen machen.
Und wie sieht es in ländlichen Regionen aus?
Dort ist das Problem, dass es vielerorts zu wenig Bildungsangebote und damit zu wenig Zukunftsperspektiven gibt. Die traditionellen Wirtschaftsformen sind in Vergessenheit geraten, und an ihre Stelle ist nichts Neues getreten. Allerdings habe ich in Sambia ein gutes Beispiel dafür erleben können, wie verloren gegangenes Wissen wieder aktiviert wurde. Darüber habe ich auch in meinem Buch berichtet. Junge Menschen ackern auf den Feldern ihrer Vorfahren. Sie holen verlorenes Wissen zurück und verbinden es mit neuen Kenntnissen. Das stoppt die Landflucht und sichert die Ernährung der Familien.
In Ihrem Buch nennen Sie Honduras als Beispiel dafür, wie durch Monokulturen und internationale Konzerne, die die Gewinne abschöpfen, ein Land in die Armut geraten kann. Welche Mitverantwortung haben die Industriestaaten für die Lage vieler Entwicklungsländer?
Mitverantwortung haben zum einen natürlich die internationalen Unternehmen, die in Entwicklungsländern produzieren lassen. Gerade in Honduras gibt es viele Fabriken, wo unter fast menschenunwürdig zu nennenden Bedingungen für zumeist chinesische und südkoreanische Fimen Kleidung für den Weltmarkt hergestellt wird. Mitverantwortung haben aber auch die Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie müssen erkennen, dass es nicht nur darum geht, dass die Menschen Arbeit haben, sondern was für eine Art Arbeit sie haben, ob sie sozial abgesichert sind und wie die Arbeitsbedingungen sind. In dieser Hinsicht ist das Bewusstsein glücklicherweise gewachsen. Der faire Handel ist aus der Nische raus, weil viele Menschen inzwischen die globalen Zusammenhänge unseres Wirtschaftens erkennen.
Ein Teil der Arbeit der Kindernothilfe ist seit ihren Anfängen die Vermittlung von Patenschaften. Damit hat das Hilfswerk auch Kritik geerntet, gerade in einer Zeit, als auch die kirchliche Entwicklungshilfe politischer wurde und zunehmend die Veränderung von Strukturen in den Blick nahm.
Das stimmt. Die Kindernothilfe hat das Modell der Patenschaften aber immer beibehalten, weil sie überzeugt ist, dass es in unserer Welt, um etwas voranzubringen, so etwas wie eine personale Solidarität braucht. Menschen müssen wahrnehmen können, dass sie füreinander Verantwortung übernehmen können. Und indem jemand Verantwortung für ein einzelnes Kind übernimmt, übernimmt er gleichzeitig Verantwortung für das Sozialprojekt, in das das Kind eingebunden ist. Die Spenden kommen dem einzelnen Kind und dem gesamten Projekt zugute.
Aber reicht das, um Armut, Not und Benachteiligung nachhaltig zu bekämpfen?
Sicher nicht. Aus diesem Grunde setzt sich die Kindernothilfe sehr stark für die Verwirklichung von Kinderrechten ein. Die Armut kann eben nicht allein durch „Charity“ bekämpft werden, wenn man sie versteht als ein vorenthaltenes Recht auf Entwicklung, Nahrung, Gesundheit und Bildung. Von dieser rechtlichen Basis werden auch Projekte gefördert, die genau das zum politischen Thema machen.
Wofür hat denn Ihr Herz in Ihrer aktiven Zeit bei der Kindernothilfe besonders geschlagen?
In vielen Ländern bin ich Kindern mit Behinderungen begegnet, die ja zumeist doppelt und dreifach benachteiligt sind – zusätzlich zu ihrer Behinderung durch Armut und/oder Vernachlässigung und Gewalt. Für diese Kinder schlägt mein Herz, denn in ihnen stecken so viele Potenziale, die nicht gesehen und nicht gefördert werden. Auch für sie müssen die Kinderrechte eingefordert werden.