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Dietrich Bonhoeffer und die Last der Generationen

Die Journalistin Dorothee Röhrig stammt aus der Familie von Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer. Im Gespräch erzählt sie, wie ihre Familie bis heute von deren Schicksalen geprägt ist.

Dietrich Bonhoeffer auf dem Zingsthof bei Karl Barth an der Ostsee
Dietrich Bonhoeffer auf dem Zingsthof bei Karl Barth an der Ostseeepd-bild / Gütersloher Verlagshaus

Es fing mit der grünen Lebenskiste in der Corona-Zeit an. Die stand im Keller der Hamburger Wohnung von Dorothee Röhrig. Die Journalistin begann aufzuräumen, schleppte die Kiste nach oben. In ihr fand sie ein Foto von sich als lockigem Kleinkind, neben ihr ihre Mutter Barbara von Dohnanyi im weißen Sommerkleid. Die Aufnahme datiert sie auf das Jahr 1954.

„Ich begann, immer mehr in diesem Foto zu entdecken“, berichtet Dorothee Röhrig. „Sie hält mich fest, aber sie hält sich auch an mir fest, als ob sie Halt sucht.“ Die Tochter schaut immer wieder das Foto an, beginnt über das gemeinsame Leben zu sinnieren. Herausgekommen ist ein persönliches, aber auch ein historisch aufschlussreiches Buch. „Du wirst noch an mich denken“, heißt es, im Untertitel „Liebeserklärung an eine schwierige Mutter“.

Röhrigs Großvater ist Hans von Dohnanyi, ihre Großmutter Christine eine geborene Bonhoeffer. Die Familie lebte in einem großbürgerlichen, intellektuellen Umfeld. Alles war gut, bevor die Nazis an die Macht kamen.

Familienmitglieder wurden Opfer der Nazis

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann auch eine familiäre Tragödie. Denn Großvater Hans ermöglichte befreundeten Juden die Ausreise in die Schweiz, dokumentierte akribisch die NS-Verbrechen. Er gilt als geistiger Urheber des Widerstands am 20. Juli 1944. „Es war einfach der zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen“, lautet ein gängiger Satz der Familie. Am 9. April 1945 ließen die Nazis ihn hinrichten, zusammen mit dem Bruder ihrer Großmutter Christine, Dietrich Bonhoeffer. Am 23. April ermordete ein Sonderkommando in Berlin außerdem Christines Bruder Klaus Bonhoeffer und ihren Schwager Rüdiger Schleicher, Ehemann von Christines Schwester Ursula.

Barbara, die älteste Tochter von Christine und Hans von Dohnanyi, 1926 geboren, war 18 Jahre alt, als die Nazis ihren Vater hinrichten ließen, ihr Bruder Klaus 16, Christoph 15 Jahre alt – ein traumatisches Erlebnis für die von Dohnanyis. Sie sei an die großen Namen der Widerstandskämpfer schon als Kind gewöhnt gewesen, habe sie mit Ehrfurcht betrachtet, sagt Dorothee Röhrig. Aber manchmal habe sie es auch als Bürde empfunden. „Die Messlatte in unserer Familie hängt sehr hoch“, erklärt sie. Seit frühester Kindheit sei ihr gesagt worden, dass sie anders seien als die anderen. Die Abgrenzung der eigenen Mutter habe sich schon in Kleinigkeiten gezeigt, so durfte Röhrig als Kind beispielsweise nicht wie andere Mädchen einen Petticoat tragen. „Das war der Massengeschmack und dem ordnete man sich nicht unter“, erklärt Röhrig.

Wie ein nicht geborgenes Kind

„Immer im Raum stand die Geschichte meines Großvaters, der mit ganz besonderem Mut sehr früh gegen Hitler aufgestanden ist und zeitig erkannt hat, was auf Deutschland zukommen wird. Und auch Dietrich Bonhoeffer ist in dieser Geschichte mit verwoben“, berichtet Röhrig. „Es blieb eine Unnahbarkeit und eine Schwere in der Familie, die ich als Kind noch nicht zu deuten wusste“, sagt sie. Ihre Familie habe sich im Kreis gedreht, ohne sich zu berühren. Auch ihre Mutter habe sehr gut Fakten erzählen, nicht aber über das Dazwischen, über Gefühle reden können.

„Sie hat mich nicht umarmt und auch nicht geküsst“, erinnert sich die Tochter. Zum Teil habe das wahrscheinlich auch allgemein an der Zeit gelegen. Sie habe sich gefühlt wie ein nicht geborgenes Kind. „Und hilflos, weil ich nicht wusste, warum meine Mutter sich verschloss. Heute verstehe ich: Sie tat es, weil sie das Erlebte nur so ertrug. Weil sie nur so überlebte.“

Sie habe sich mit ihrer Familie die Statue von Dietrich Bonhoeffer in der Londoner Kirche Westminster Abbey angeschaut. „Er steht dort in Stein gemeißelt neben Martin Luther King. Das ist schon fast ein symbolischer Moment, wenn man da hochschaut“, sagt sie. Bonhoeffer gehört zu zehn Märtyrern des 20. Jahrhunderts, die mit Skulpturen in den gotischen Nischen über dem Westportal der Abtei von Westminster geehrt werden. Enthüllt hat die Figurenreihe der Erzbischof von Canterbury in Anwesenheit von Königin Elisabeth 1998. Über manche der dort Dargestellten soll es Streit gegeben haben, doch einig waren sich offenbar alle an der Auswahl Beteiligten, dass Bonhoeffer an diesen Platz gehört.

Eigene Persönlichkeit entwickeln

In der Dohnanyi-Bonhoeffer-Familie aufgewachsen zu sein beschreibt Dorothee Röhrig als ambivalent. Ihr Onkel Klaus, Jurist und bekannter SPD-Politiker, war Hamburgs Erster Bürgermeister von 1981 bis 1988. Ihr Onkel Christoph ist ein bedeutender Dirigent und Intendant. „Einerseits ist es toll, aus einer so traditionsreichen und einflussreichen Familie zu kommen. Andererseits ist ihr Ruf ja nicht mein Verdienst und es ist nicht leicht, unter dieser Riege von großen Leuten seinen eigenen Weg zu finden.“ Als junger Mensch müsse man sich auch ein wenig davon befreien, um die eigene Persönlichkeit entwickeln zu können.

Und die Schwester der erfolgreichen Onkel, Barbara, ihre Mutter? War meinungsstark, elegant und voller Humor, beschreibt ihre Tochter. Sie habe die Fotoschule besucht, sehr gerne Klavier gespielt und sich für Mode interessiert. Vier Jahre nach der Hinrichtung ihres Vaters heiratete sie den feingeistigen sensiblen Juristen Wilhelm Bayer. Nach einigen Fehlgeburten bekam sie ihre Tochter Dorothee und ihren Sohn Christoph.

Weihnachten in schöner Atmosphäre

Sie hätte viele Wege gehen können, stattdessen hat sie „ein schicksalhaft trauriges Leben geführt“, urteilt ihre Tochter. Sie habe sich auf die Familie und den Haushalt konzentriert und dabei „mit aller Kraft die Welt von früher wiederherstellen wollen, das war ihr ein Herzensanliegen“, berichtet ihre Tochter. Weihnachten sei dafür ein Symbol gewesen. Sie habe alles gegeben, um eine schöne bürgerliche Atmosphäre in dem kleinen Haus zu schaffen. Dafür sei sie ihr dankbar.

Was Dorothee Röhrig bis heute wütend macht: Großvater Hans von Dohnanyi galt bis zum 1. September 1998 als Landesverräter. Die Familie musste jahrzehntelang ohne Anerkennung auskommen, ohne Geld – im Gegensatz zu überlebenden Nazi-Funktionären, von denen viele mit ihren Pensionen ein gutes Auskommen gehabt hätten. Sie frage sich, wie ihre Großmutter mit ihren drei Kindern damit umgangen ist in den 1950/60er Jahren. „Die Wut bei mir hört jedenfalls nicht auf. Ich merke das, wenn das Thema Rechtsaußen und Nazis wieder in den Schlagzeilen auftaucht, was ja leider heute öfter der Fall ist. Da komme ich ganz schnell auf die Palme“, bekennt Röhrig.

Wut über Erstarken der Rechten

Ihre Mutter sei 2016 gestorben und müsse diese Entwicklung Gott sei Dank nicht mehr mitbekommen. Es habe schon gereicht, was sie sich bis zu ihrem Tod mit 90 im Fernsehen hat anschauen müssen. „Sie hat sich so aufgeregt, dass so etwas wieder möglich ist. Dem muss man eine schallern“, habe sie öfter laut gefordert.

Was Barbara Bayer-von Dohnanyi aber noch erlebt hat: 2003 hat der Staat Israel ihren Vater Hans von Dohnanyi mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

Dorothee Röhrig: Du wirst noch an mich denken – Liebeserklärung an eine schwierige Mutter, dtv Verlag 2023, 256 Seiten, 24 Euro.