Nach welchen Werten leben wir? Diese Frage hat sich Jörg Eigendorf, bei der Deutschen Bank zuständig für den Bereich Nachhaltigkeit, gestellt. Welche Werte er selbst für wichtig hält und warum Martin Luther ihm darin ein Vorbild ist, hat er in einer „Tischrede“ in der evangelischen Stadtkirche in Ratingen dargelegt.
Es beruhigt ungemein zu wissen, woher man kommt und wohin man geht. Das ist Heimat.
Warum ist Heimat so wichtig? Tatsächlich ist der Begriff Heimat hohl, wenn man ihn rein auf einen Ort bezieht. Heimat kann viel mehr sein als die Stadt, aus der man kommt. Nämlich dann, wenn man Heimat als Ort seines Ursprungs versteht, also als das, was ein Mensch mitbekommen hat in den so wichtigen ersten Jahren seines Lebens.
Am Ende geht es darum, wer wir sind
In den ersten Lebensjahren werden wir ja alle zutiefst geprägt, geradezu konditioniert. Wir bekommen das Koordinatensystem mit auf den Weg, mit dem wir durchs Leben gehen werden. Meist sind es die Eltern, die uns in diesen Jahren prägen, die entscheidend bestimmen, was uns eines Tages wichtig ist.
Wie wir reagieren, wenn wir kritisiert oder attackiert werden oder unter Druck geraten; ob wir zu dem stehen, was wir für richtig halten; welche Werte wir haben.
Am Ende geht es darum, wer wir sind. Martin Luther hat das in seinem Großen Katechismus mit einem Satz so schön beschrieben: „Worauf du nun dein Herz hängst und verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“ Dieser Satz hat eine einfache Logik: Wer sein Herz an das Falsche hängt, der wird dem falschen Gott folgen. Wer also im Sinne Martin Luthers sein Herz ans Gute hängt, es mit Grundwerten und Tugenden wie Mut, Wahrheitsliebe und Vertrauen, Nächstenliebe und Treue verbindet, der wird nicht nur viel Gutes bewegen können, sondern auch in sich ruhen und glücklich sein.
Mut eint die Großen der Weltgeschichte
Martin Luther ist ein gutes Beispiel dafür. Er hat sich gegen eine der mächtigsten Institutionen seiner Zeit gestellt, ja gegen eine scheinbar allumfassende, allmächtige Institution – eine Kirche, die nicht vor Verfolgung, Hinrichtung und Inquisition zurückschreckte, so wie es heute autokratische Regime tun.
Sich gegen eine solche Institution zu stellen, verlangt zunächst einmal zweierlei: das kompromisslose Bekenntnis zu seinen eigenen Werten – und Mut. Und das ist eine Tugend, die all jene eint, die in der Weltgeschichte Großes bewegt haben. Und damit im christlichen Sinne handelten: „Selig sind“, heißt es in der Bergpredigt, „die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“ Luther war bereit, aus tiefer Überzeugung dieses Opfer zu bringen. Er riskierte sein Leben.
Seine kategorische Haltung ist in keinem anderen Moment so deutlich dokumentiert wie an jenen 17. April 1521 vor dem Reichstag zu Worms, als Luther letztmals von den Fürsten und Reichsständen verhört und zum Widerruf seiner Lehre aufgefordert wurde. Obwohl er wusste, dass eine Weigerung seinen Tod bedeuten könnte, sagte er: „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen!“
Indem Luther der römisch-katholischen Kirche diesen Spiegel vorhielt und dabei erfolgreich war, ist er zu einer universellen Persönlichkeit geworden. Und das mit Sätzen von manchmal genialer Einfachheit: „Pfaffen sollen nicht regieren, sondern beten“, war einer dieser Sätze. Luthers Erfolg geht auch darauf zurück, dass er sich gegen die Eliten auflehnte und sich dabei der Sprache des Volkes bediente. Er wäre folglich auch ein hervorragender Journalist gewesen. Aber Luther ist zum Glück seiner Berufung gefolgt.
Es gibt nur wenige Persönlichkeiten von dieser universellen Größe. Wenn wir in das vergangene und dieses Jahrhundert schauen, dann reicht eine Hand, um diese Menschen aufzuzählen. Im 20. Jahrhundert fallen mir Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und der Dalai Lama ein – die einzige dieser universellen Persönlichkeiten, die noch lebt.
Eine starke Liebe zu den Menschen
Diese Männer eint eines: die tiefe Verbundenheit zu ihren Werten. Es sind Wahrheitsliebe, Aufrichtigkeit, innere Kraft und eine starke Liebe zu den Menschen. Und die Bereitschaft, Gefahr, Bedrohung und persönliches Leid für die noch viel größere Sache auf sich zu nehmen.
Vieles von dem, wofür Luther, Gandhi, Luther King, Mandela und auch der Dalai Lama standen und stehen, hat heutzutage allergrößte Relevanz. Die demokratische und friedliche Welt wird immer kleiner; Menschenrechte werden sträflich missachtet. Die Rechte der Frauen, für die schon der Mönch Luther eintrat, sind bis heute weit davon entfernt, universell zu sein. In vielen Ländern führt es zu unvorstellbaren Härten, wenn man sich gegen die Obrigkeit auflehnt.
Luther würde heute in vielen Ländern dieser Welt Opfer autokratischer Regime und das auch in Europa. Er würde es möglicherweise gar nicht schaffen, seine Thesen an die Pforte einer Kirche zu nageln.
Genau hier spielt aus meiner Sicht die Kirche eine entscheidende Rolle. Nur wenn sie sich auf ihre Wurzeln besinnt, wird sie ihre Kraft in der Gesellschaft entfalten können. Es geht darum, Halt zu geben in einer Welt, die schon aufgrund von Kriegen, Zerstörung und Flüchtlingskatastrophen einerseits sowie aufgrund des rasanten technischen Fortschritts andererseits immer halt- und rahmenloser zu werden droht.
Es geht darum, im Sinne Jesu Christi diejenigen zu stärken, die den Mut aufbringen, für andere Menschen, für Gerechtigkeit und Freiheit friedvoll zu kämpfen. Dafür stand Jesus, der ja ebenfalls in seiner Zeit ein friedlicher Revolutionär war und dafür sein Leben ließ.
Und dafür kann auch jede und jeder von uns stehen. Auch das haben Jesus und Luther gelehrt: So wichtig die große Idee ist, so wichtig ist jeder Einzelne von uns. „Der Glaube bringt den Menschen zu Gott, die Liebe bringt ihn zum Menschen“, ist einer dieser weisen Sätze Luthers.
Jede und jeder Einzelne von uns hat es in der Hand, diese Welt ein Stück schöner zu machen, indem wir anderen die Hand reichen, ein Lächeln schenken. Indem wir helfen, teilen und für unsere Werte eintreten – auch wenn das für uns mit Opfern und Härten einhergehen könnte.
Lebe so, dass du nicht lügen musst
Wir werden jeden Tag aufs Neue getestet, wie wir es mit unseren Werten halten – in der Familie, mit Freunden, in unserem Beruf. Hier können wir bestehen. Auch das hat Luther in einem wunderschönen Satz zusammengefasst: „Immer hat Gott den Anfang gemacht durch einen einzelnen Menschen und wunderbare Dinge durch ihn gewirkt.“ Welcher Wert ist mir der Wichtigste, was habe ich mitgenommen aus den ersten 16 Jahren meines Lebens mit meinen Eltern? Ganz klar: die Liebe zur Wahrheit. Es hat viel mit meinem Vater zu tun, der mir schon früh sagte: „Das Schlimmste, was du tun kannst, ist zu lügen.“