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Verletzlich und mutig

In Berlin-­Neukölln erprobt das Projekt „Startbahn“ wie Gemeinde in Zukunft sein kann

Von Jasmin El-Manhy

Vor zwei Jahren bekam ich die Gelegenheit eine Kirche umzubauen. Die Genezarethkirche steht auf dem Herrfurthplatz in Berlin-Neukölln, mitten in einem der hippsten Kieze Berlins. Der Kirchenkreis Neukölln hatte sich entschlossen, aus dieser Kirche einen innovativen kirchlichen Ort zu machen und den Umbau ermöglicht. In Zusammenarbeit mit einer jungen Designfirma entstand ein moderner, flexibel nutzbarer, die Sinne anregender und zum Aufenthalt einladender Kirchraum, der viele überrascht und begeistert (www.startbahn.berlin). Viel ist seitdem geschehen. Unser Projekt trägt den Namen „Startbahn“ und wir sind mehr als ein hipper Ort. Wir erproben stellvertretend, wie eine Gemeinde zukünftig sein kann. Oder besser: Wie sie genau jetzt sein kann.

Die „Startbahn“ versteht sich als Gemeinschaftsexperiment. Erprobt wird eine Gemeinschaft, die sich –jenseits von Bekenntnis und Mitgliedschaft – als caring creative community  (sorgende, gestaltende Gemeinschaft) versteht. Sie fördert gemeinschaftliches Handeln ebenso  wie die Unabhängigkeit der einzelnen Akteur*innen. Sie stärkt die Selbstverwaltung des Kiezes und ermöglicht den Bewohner*innen ein besseres, glücklicheres Leben. Sie interessiert sich in ihrer Praxis nicht für Abgrenzung, sondern verknüpft künstlerisches, politisches und spirituelles Handeln miteinander. Diese Gemeinschaft, lädt dazu ein, die Dimension des Göttlichen in religiöser und spiritueller Vielfalt, in Ritual und Dialog, zu feiern und zu würdigen. Das Experiment ­besteht also darin, eine Kirche als öffentlichen Ort in einem der angesagtesten, diversesten Stadtteile Berlins zu entwickeln. Weil jede ­caring creative community einen solchen Ort braucht.

Drei Dinge möchte ich zum Reformationstag aus unseren Erfahrungen weitergeben. Unsere Kirche ist nicht divers. Sie sollte es unbedingt werden, damit sie eine Chance hat, sich zu verändern. Ein Anfang wäre, an jeder Kirche gut sichtbar die Farben des Regenbogens zu ­hängen, die signalisieren: Vielfalt ist hier willkommen! Wir brauchen mehrsprachige Gottesdienste, zumindest auf Englisch und vor allem in den Städten, weil so viele kein Deutsch sprechen. Und vielleicht wäre es sinnvoll Vertreter*innen aus den Migrationsgemeinden einen festen Platz in den Gemeindekirchenräten zu geben. Zu Diversität gehören auch deutlich mehr Frauen in leitenden Funktionen. Dass wir nach über 500 Jahren ­Reformation immer noch damit ­beschäftigt sind, biblische Frauen­figuren in unseren Gottesdiensten sichtbar zu machen und uns in der Auslegung der Texte von jahrhundertealtem Sexismus zu befreien, ist beschämend.

Wir brauchen mehr Erfahrung. Gerade wenn es um den Bereich ­Spiritualität geht, werden wir in der Regel zuerst gefragt, wo unsere Grenzen sind. Unsere Erfahrungen interessieren viel weniger. Unsere Grenzen sind nicht klar definiert. Schon deshalb nicht, weil wir uns in diesem Bereich viel zu wenig auskennen, um urteilen zu können. Wenn jemand bei uns eine Veranstaltung plant, laden wir erst einmal zum Gespräch ein. Wichtig ist uns, dass wir Zugang zu der Veranstaltung haben, etwa über Freitickets. Wir nutzen den Erprobungsraum, um selbst Erfahrungen zu machen und diese dann zu ­reflektieren – im Austausch. 

Wir geben als Kirche nicht mehr den Rahmen – auch nicht in der ­gottesdienstlichen Feier. Zu Beginn haben wir als Team der „Startbahn“ keine regelmäßig stattfindenden Gottesdienste gefeiert. Wir wollten erst einmal ein Gefühl für den Ort und den Kiez bekommen, um eine passende Form zu finden. Seit November 2021 feiern wir sonntags um 13 Uhr Gottesdienst in der „Church of Interbeing“, die offen ist für alle Religionen und spirituelle Zugänge. Zurzeit nehmen ­zwischen 25 bis 35 Personen im ­Alter von 25 bis 45 Jahren regelmäßig teil.

Der Ablauf ist nicht bestimmt von Liturgie und Predigt, sondern von Ritual und Dialog. Es geht auch nicht um das Einüben in einen ­bestimmten Ablauf und die Wiederholung der einzelnen Elemente. Vielmehr stehen der Austausch und die Lust daran, Neues zu entdecken und auszuprobieren im Vordergrund. Mit der  haben wir die Möglichkeit mit den Menschen, die sich zur caring creative community zugehörig fühlen, Gottesdienst zu feiern. Die „Church of Interbeing“ lädt viele Traditionen ein, ihre Gaben in den Dienst des Lebens zu stellen. Der Rahmen ist Respekt, Dialog, Fürsorge und Spiel.

Wir haben gelernt, uns als ­Kirche verletzlich zu zeigen. Im Sinne von suchend und ergänzungs­bedürftig. Auf Gemeinschaft nach außen angewiesen, weniger ­repräsentativ. Und dann sind wir abgehoben.

Jasmin El-Manhy ist Geschäftsführerin des Projektes Startbahn und landeskirchliche Studien­leiterin der EKBO.