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Verfassungsgericht prüft medizinische Zwangsbehandlung

Wann bin ich nicht mehr frei, über meine medizinische Therapie zu entscheiden? Und müssen die Ärzte mich zu einer Zwangsbehandlung in eine Klinik bringen? Das Verfassungsgericht steht vor einer komplexen Entscheidung.

Die Ärzte sind sicher: Die unter wahnhafter Schizophrenie leidende Frau benötigt dringend ein anti-psychotisches Medikament. Lange wirksam und per Injektion verabreicht. Doch die in einer Wohneinrichtung für psychisch Erkrankte lebende Frau wehrt sich dagegen. Und kann nicht überzeugt werden.

Also lassen sich die Mediziner die Medikamentenbehandlung richterlich genehmigen. Auch der rechtliche Betreuer der Patientin stimmt zu. Die Frau wird also fixiert, in ein Krankenhaus gebracht und erhält dort gegen ihren Willen die Spritze.

Eine Situation, wie sie bundesweit geschätzte 4.000 Mal im Jahr vorkommt. Ohne große Öffentlichkeit. Genaue Statistiken gibt es nicht. Die Psychiatrien dokumentieren die Fälle nur unvollständig. Auch die entsprechenden Statistiken der Bundesländer ergeben kein klares Bild.

Jetzt ist ein Fall – exemplarisch für viele – vor dem Verfassungsgericht angekommen. Karlsruhe hat sich bereits mehrfach mit Zwangsbehandlungen befasst. Dabei stellten die Verfassungsrichter klar, dass die Zwangsbehandlung nur das allerletzte Mittel sein darf. Erst müsse das Behandlungsteam alles versuchen, um zu einer einvernehmlichen Therapie zu kommen.

Darin waren sich auch alle Experten und Expertinnen der Verfassungsgerichtsverhandlung am Dienstag einig. Allerdings ging es in dem konkreten Verfahren “nur” um eine Detailfrage des Gesetzes, das die hohen Hürden für eine Zwangsbehandlung festschreibt.

Laut Gesetz muss eine Zwangsbehandlung immer in einem Krankenhaus stattfinden. Nur dort, so die Argumentation, sei die schwierige medizinische Versorgung, eine möglichst schonende Fixierung der Patienten und auch die entsprechende Nachsorge nach der Behandlung sichergestellt.

Der rechtliche Betreuer der schizophrenen Patientin argumentiert aber, dass die zwangsweise Verlegung in ein Krankenhaus eine zusätzliche, traumatische Belastung für die Frau bedeutet. Es wäre aus seiner Sicht deutlich besser, der Frau in ihrem gewohnten Umfeld die Spritze zu geben. Ambulant statt stationär also.

Doch mehrere Experten sehen diese etwaige Liberalisierung als gefährlichen Dammbruch. Denn damit drohten die Hürden für eine Zwangsbehandlung niedriger zu werden. “Was wäre, wenn eine Einrichtung sagt, naja, der Aufwand mit der Krankenhaus-Überstellung ist uns zu groß. Dann zwingen wir die Patientin doch viel einfacher bei uns zur Medikamenteneinnahme”, fragte Nils Greve vom Dachverband Gemeindepsychiatrie. Auch Kay Lütgens vom Bundesverband der Berufsbetreuer warnte, Zwangsbehandlungen dürften nicht zum Normalfall werden.

Dagegen argumentierten Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, dass laut den Erfahrungen in der Praxis einige Patienten durchaus von einer ambulanten Öffnung profitieren könnten. Allerdings sprachen auch sie von Einzelfällen.

Unklar blieb, wie viele Fälle für eine solche ambulante Zwangsbehandlung überhaupt in Frage kämen. Denn die große Mehrheit der geschätzten 4.000 Zwangsbehandlungen pro Jahr geschieht an Patienten, die ohnehin stationär in einer Klinik sind.

Dazu merkte Annette Loer vom Betreuungsrichtertag kritisch an, dass die Zahl der Zwangseinweisungen in den vergangenen Jahren ansteige. “Wohl auch deshalb, weil es vielerorts keine guten ambulanten Therapieangebote für psychisch Kranke gibt und die meisten Ressourcen in die Kliniken gehen.” Auch nach einer Entlassung aus der Klinik fehle es an Hilfen und Begleitung.

Die dreistündige Verfassungsgerichtsverhandlung machte deutlich, dass eine mögliche gesetzliche Neuregelung auch deshalb kompliziert ist, weil die betroffenen Patientengruppen sehr unterschiedlich sind.

Mehrere Experten wiesen darauf hin, dass es vor allem für Demenz-Erkrankte besonders belastend ist, zwangsweise in ein Krankenhaus gebracht zu werden. “Wenn sie ihre gewohnte Umgebung verlassen müssen, kann das große Verwirrung und eine Trauma-Folgestörung verursachen”, sagte Martin Wierzyk von der Gesellschaft für Verhaltenstherapie.

Welche Lösungsansätze die Verfassungsrichter sehen, und wie eine Gesetzesänderung die verschiedenen Einzelfall-Konstellationen aufgreifen könnte – darauf gab der Erste Senat unter Vorsitz von Gerichtspräsident Stephan Harbarth am Dienstag keine Hinweise. Mit einer Entscheidung ist erst in einigen Monaten zu rechnen.

Die Klägerin im Ausgangsverfahren muss bis dahin damit leben, dass sie für die regelmäßig angeordneten Injektionen weiterhin zwangsweise in eine Klinik gebracht wird.