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Unter einem Dach

Vor St. Stephanus in Lüneburg haben die Wochenmarktbeschicker ihre Stände aufgebaut. Im Eingangsbereich des ökumenischen Gemeindezentrums sitzen Menschen unter großen Sonnenschirmen. Auch das Foyer füllt sich schnell zum Frühstück, das Ehrenamtliche zum Selbstkostenpreis ausgeben. „Hier ist jeden Tag Action“, sagt der katholische Pastoralreferent Johannes Honert. Seit 50 Jahren haben im Stadtteil Kaltenmoor evangelische und katholische Gemeinde zwei Kirchen unter einem Dach.

„Sie können gleich nach links abbiegen und sind in der katholischen Kirche“, sagt Honert beim Gang durch den Betonbau. „Ein paar Schritte weiter geht es in die evangelische, die sich zum Foyer hin öffnen lässt.“ St. Stephanus ist das älteste ökumenische Gemeindezentrum in Niedersachsen. Lange galt es vielen auch als bundesweit erstes, vielleicht weil es erste Überlegungen dazu weit vor dem Baubeginn 1973 gab.

Doch gebe es Vorläufer, zum Beispiel in Marburg, Kassel und Karlsruhe, die früher eingeweiht wurden, sagt der Bochumer Superintendent Gerald Hagmann, der seine Dissertation über ökumenischen Zentren geschrieben hat. Planungsphasen begannen auch hier zumeist in den 1960er Jahren. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die damit verbundene ökumenischen Dialogbereitschaft der römischen Kirche wirkten damals nach, erläutert Hagmann. Stadtplanerische Entwicklungen und ein neues Verständnis einer multifunktionalen Nutzung von Kirchräumen prägten die Entwicklung ebenso.

Auch Johannes Dieckow, Referent für Catholica- und Ökumenearbeit bei der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, spricht von einer Phase des ökumenischen Aufbruchs in der Gründungsphase der Zentren. „Man kann sagen, dass in ihnen Pionierarbeit geleistet worden ist“, sagt er. „Vielleicht kann man von einem ‘Experimentierfeld’ sprechen, auf dem Menschen mit großem Engagement und Leidenschaft gearbeitet haben.“

Als in Lüneburg Ende der 1960er Jahre in Kaltenmoor ein Neubaugebiet mit Bungalows, Hochhäusern und einem Einkaufszentrum geplant wurde, waren für die evangelische und katholische Kirche zunächst zwei nebeneinander liegende Grundstücke vorgesehen. Auch wirtschaftliche Erwägungen hätten bei der Entscheidung, gemeinsam zu bauen, eine Rolle gespielt, heißt es in einer alten Festschrift. Vor allem habe es ein gutes Miteinander der Konfessionen gegeben, sagt die heutige evangelische Pastorin Anette Israel. „Der Geist des Aufbruchs lag in der Luft.“

Am 21. September 1974 wurde das Zentrum eingeweiht. Einzigartig sei, dass ein ökumenischer Ausschuss das Haus für beide Konfessionen verwalte, sagt Israel. Manches wie Kinderbibeltage begehen evangelische und katholische Christen gemeinsam. Auch gemeinsame Gottesdienste gibt es immer wieder.

Kaltenmoor ist der mit rund 3.700 Menschen (Stand September 2023) bevölkerungsreichste Stadtteil Lüneburgs. Das ökumenische Zentrum wird von Hochhäusern überragt, die im damaligen Fortschrittsgeist errichtet wurden. Heute ist das Viertel Sanierungsgebiet. „Hier leben Menschen aus über 70 Nationen“, sagt Johannes Honert.

So wird das Zentrum auch von Gemeinden mit vietnamesischem, kroatischem und polnischem Hintergrund genutzt. Russisch-orthodoxe Christen kommen dort zusammen und eine evangelische Brüdergemeinde. Das Zentrum leistet zudem vielfältige soziale Arbeit. Sein Foyer ist Treffpunkt für alle Menschen im Stadtteil. Unter anderem tischt wie beim Frühstück an diesem Tag der Verein „Café Contact“ regelmäßig auf. Dessen Leiterin Meggie Demir ist, wie viele weitere Ehrenamtliche, Muslima, wie Israel erzählt.

„Das Miteinander ist entspannt“, so beschreibt die Pastorin die alltäglich gelebte Ökumene. Vor Jahren gab es mit dem katholischen Bistum Hildesheim eine Auseinandersetzung um die gemeinsame Feier der Osternacht. Zwar wurden katholische Eucharistie und evangelisches Abendmahl dabei getrennt und nacheinander gefeiert. Dennoch bat der damalige katholische Bischof Norbert Trelle, eine andere Lösung zu finden. Viele hätten das als Rückschritt empfunden, sagt die Pastorin.

Heute laden in der Osternacht Katholiken und Protestanten im Wechsel einander ein. „Das ist im Grunde sogar weitreichender“, sagt Israel. Gemeinsam mit Honert öffnet sie einen Raum, der eine Besonderheit birgt. Dort gibt es eine große quadratische Ausbuchtung aus Betonwänden. Falls man sich entzweit hätte, hätte daraus ein Eingangsportal der evangelischen Kirche entstehen können, erläutert Israel. „Doch das ist in Vergessenheit geraten.“