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Und unten saß Kurt Masur

Fast 20 Jahre lang war Manuel Gera an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Zum Abschied verrät er, warum es ihn ausgerechnet ins ländliche Brandenburg zieht – und was die schönsten Michel-Momente waren.

Manuel Gera spielt seine letzte Mittagsandacht
Manuel Gera spielt seine letzte MittagsandachtMarc Fahning

Herr Gera, Sie wechseln nach knapp 20 Jahren am Michel gemeinsam mit Ihrer Frau Anne-Katrin in eine Kleinstadt. Warum?
Manuel Gera: Die Stelle ist uns sozusagen vor die Füße gefallen, wir hatten gar nicht danach gesucht. Wir waren als Referenten auf einem Symposium zum Thema „Zukunft der Orgelmusik“ in Jüterbog – und am Ende hieß es, dort sei die Stelle des Kreiskantoren frei. Wir haben uns Stadt und Region angeschaut und gesagt: „Wir bewerben uns mal!“ Im November bin ich gewählt worden, im Januar erhielt Anne-Katrin eine neue Stelle dort.

Hatten Sie schon länger geplant, Hamburg zu verlassen?
Das ist verbunden mit dem alten Traum, mit ein bisschen mehr Ruhe auf dem Land zu wohnen. Wichtig ist uns auch die Musikvermittlung – das Unterrichten macht uns Spaß! Es ist eine Art großväterliches Gefühl, dass man die Erfahrung, die einem in 40 Jahren Kirchenmusik geschenkt wurde, weitergeben möchte.

Ein Fazit – was hat Ihr Wirken als Michel-Organist geprägt?
Der Michel ist eine Kirche, die immer spannend bleibt. Das Herz klopft vor Begeisterung, wenn man in diese Kirche geht! Mir geht es jeden Tag so. Der Michel fordert nicht nur Höchstleistung, sondern ermöglicht auch eine innere Beteiligung. Vielleicht, weil man dort mit allen Sinnen in der Kirche sein kann. Dadurch, dass jeden Tag Gottesdienste gefeiert werden, jeden Tag die Orgel erklingt. Man fühlt sich wohl, die Kirche ist hell und warm, es ist fast ein himmlischer Eindruck, den man hat.

Anne-Katrin und Manuel Gera mit Orgelwurm Willibald, der auch in Stade Kinder erläutert, warum die Orgel ein tolles Instrument ist
Anne-Katrin und Manuel Gera mit Orgelwurm Willibald, der auch in Stade Kinder erläutert, warum die Orgel ein tolles Instrument istDieter Sell / epd

Was macht die Orgelmusik im Michel aus?
Sie hat einen wunderbaren Klang! Eine Orgel hat eigentlich einen statischen Klang. Aber die Vielzahl der 1100 Orgelpfeifen und die unendlichen Kombinationsmöglichkeiten im Michel machen ihn dynamisch, zu einem großen symphonischen Orchester. So gelingt es, die Leute anzusprechen. Auch als Ausführender ist man fasziniert von dem, was man hört. Ich bin kein besonders sentimentaler Mensch – aber wenn ich ein neues Stück einregistriere, dann kullert manchmal schon ein Tränchen, und ich denke: „Wow, das ist so schön.“


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Haben Sie eine Lieblingsorgel im Michel?
Nein, das ist davon abhängig, was ich spiele. Wenn man ein Rundum-Klangerlebnis haben möchte, dann sitze ich an einem elektrischen Spieltisch, eine Art Fernbedienung für drei Orgeln. Dort kann ich der Fantasie freien Lauf lassen, die klangliche Vielfalt, zum Beispiel „Echos“, wenn man zwei Orgel ins Gespräch bringen will, ist dort besonders groß. Die Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel dagegen ist Orgel pur – mit mechanischer Traktur und in einer Bauweise von 1650. Darauf zu spielen, ist mehr als eine historische Reise; es ist auch ein Erlebnis, das man haptisch an Händen und Füßen spüren kann. Für den Organisten eine tolle Sache!

Bevorzugen Sie eine bestimmte Art des Orgelspiels?
Ich habe einerseits die Begabung geschenkt bekommen und andererseits Fähigkeiten erworben, um zu improvisieren: sich also in diesem Moment Musik auszudenken und sofort auszuführen. Das ist eine alte Kunst, die heute öffentlich nur die Jazz- und Kirchenmusiker machen. Man denkt mindestens eine Sekunde im Voraus, manchmal auch mehr. Dabei ist man sehr konzentriert, es ist eine Art der Meditation.

Manuel Gera steht im Oktober 2009 inmitten der Pfeifen der renovierten Steinmeyer-Orgel
Manuel Gera steht im Oktober 2009 inmitten der Pfeifen der renovierten Steinmeyer-OrgelStephan Wallocha / epd

Was war Ihr aufregendstes Erlebnis im Michel?
Im Michel gab es schon „Adrenalin-Situationen“, zum Beispiel bei den Trauerfeiern für Jan Fedder oder Helmut Schmidt. Anfang der 2000er hieß es kurz vor einer Mittagsandacht: „Kurt Masur sitzt unten!“ Da rutschte mir schon ein wenig das Herz in die Hose; wohlwissend, dass da unten jemand sitzt, der wirklich zuhören kann. Später bekam ich die Rückmeldung, er sei sehr beeindruckt gewesen.

Wie sind Sie bisher durch die Pandemie gekommen?
Ich war hier im Michel in einem so kreativen Team unterwegs, dass man einfach nur Bauklötze staunen kann. Wie schnell es geschafft wurde, von den traditionellen Formen abzukommen und sich etwas Neues auszudenken! Wir wollten der guten Botschaft Jesu Christi in Wort und Musik den Weg bereiten – eben den Weg, der gerade möglich ist. Das hat auch mich getragen.

Seit 2002 haben Sie auch die Kantorei am Michel geleitet. Wie geht es dort weiter?
In Zukunft wird der Arbeitsbereich der beiden Kirchenmusiker hier am Michel anders aufgeteilt – Jörg Endebrock ist dann verantwortlich für den Chor und die Kantorei St. Michaelis sowie die Singschule, zudem spielt er Orgel. Geplant ist, dass meine Nachfolge am 1. September beginnt und den Löwenanteil des Orgelspiels übernimmt.

Wie blicken Sie auf Ihre Zeit am Michel zurück?
Mit ganz großem Dank. Ich weiß, dass ich mich hier im Michel entwickeln durfte, dass ich die Erfahrungen, die ich hier machen konnte, nirgendwoanders hätte machen können. Der Michel ist eine kirchenmusikalische Komfortzone und ein sehr besonderer Ort – dafür, dass ich diesen Spielraum hatte, bin ich sehr dankbar.

Zur Person
Manuel Gera, Jahrgang 1963, studierte an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf Kirchenmusik. Seit 2001 war er an der Hauptkirche St. Michaelis tätig, ab 1. Mai spielt er in St. Nikolai in Jüterbog­. Mit seiner Ehefrau, Organistin Anne-Katrin Gera, gestaltet er Orgelkonzerte für Kinder.