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Unbeugsam und ungebrochen

Eine religiöse Figur war Nelson Mandela nicht. Und doch wird er dieser Tage wieder häufig „Ikone“ genannt werden. Seine Verehrung hat ein Ausmaß wie bei nur ganz wenigen: Mahatma Gandhi und vielleicht Martin Luther King

© epd-bild / Norbert Neetz

Ein Nelson Mandela kann Päpsten und Königen auf Augenhöhe begegnen. US-Präsidenten und abwärts bis hin zu Stars aus Sport und Pop erscheinen auf dem Erinnerungsfoto mit ihm schon als bloßes Beiwerk. Nelson Mandela, Widerstandskämpfer gegen die Apartheid, Denkmal schon zu Lebzeiten, Vater der Regenbogennation Südafrika, wäre am 18. Juli 100 Jahre alt geworden.

„Der berühmteste Häftling der Welt“

Jeder kennt die Biographie, die schon ihren festen Platz in den Geschichtsbüchern hat: Geboren am 18. Juli 1918 in einem Dorf nahe Umtata in der Transkei, der ärmsten Region Südafrikas am östlichen Kap; eine naturverbundene Kindheit als Hirtenjunge. Die methodistische Lehrerin konnte mit seinem Xhosa-Namen Rolihlahla (übersetzt etwa „der Unruhestifter“) nichts anfangen und nannte ihn „Nelson“. Jurastudium als Schwarzer während der Rassentrennung. Bürgerrechtler, Aktivist und Anführer im Afrikanischen Nationalkongress ANC und seinem bewaffneten Arm, dem „Speer der Nation“; abgeurteilt wegen Terrorismus und Verrats und 1964 für lebenslänglich eingesperrt.
Als Nummer 46664 „berühmtester Häftling der Welt“ auf der Gefängnisinsel Robben Island vor Kapstadt; insgesamt 27 Jahre in Haft, unbeugsam und ungebrochen. Triumphale Freilassung 1990; Protagonist eines gewaltfreien Endes der Apartheid und der Versöhnung statt der Rache; erster schwarzer Staatspräsident Südafrikas von 1994 bis 1999. Zum Millenniumswechsel zog sich Mandela aus der aktiven Politik ins Privatleben zurück. Und blieb doch immer da: als Gewissen der Nation, als Übervater, Elder Statesman.
Sein letzter öffentlicher Auftritt war eigentlich die Schlussfeier der Fußball-WM 2010 im eigenen Land gewesen. Doch im April 2013 sorgte eine TV-Schaltung für Grusel und Proteste, die den todkranken Greis apathisch inmitten fröhlicher selbsternannter politischer Erben zeigte: Staatspräsident Jacob Zuma, ANC-Vizepräsident Cyril Ramaphosa und anderer Parteifunktionäre. „Wie ein Tier im Zoo. Wir sollten uns schämen“, twitterte ein zorniger Bürger damals. Kein alter Mensch verdiene einen solchen Auftritt.

Familie zankt öffentlich um den Grabplatz

Vergeblich bat Altersbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu die Nation: „Lassen wir ihn in Frieden gehen!“ Doch die Medien lieferten sich einen beschämenden Rummel vor Mandelas Krankenhaus in Pretoria. Die Familie zankte sich öffentlich um seinen Grabplatz. Und ganz am Ende musste er, künstlich beatmet, noch seinen 95. Geburtstag feiern lassen.
Rückblende, das Ringen um ein Ende der Apartheid. Die blutigen Konflikte zwischen Xhosa und Zulus im Sommer 1990 trüben das Vertrauen zwischen Mandela und Tutu einerseits und Regierungschef Frederik Willem de Klerk andererseits. Erst recht, als ans Licht kommt, dass der immer noch mächtige Geheimdienst hinterrücks die Zulu-Partei Inkatha unterstützt. Mit Waffenlieferungen, Militärtrainings, dem Dirigieren nächtlicher Aktionen schürt eine „dritte Macht“ aus Teilen von Polizei, Geheimdienst und Armee den Konflikt, um so eine Unmündigkeit der Schwarzen vorführen zu können: Bitte sehr, die kriegen es eben doch nicht hin!
Und dann noch der Mord an Chris Hani. Im April 1993 tötet ein polnischstämmiger Rassist den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Südafrikas und Stabschef des „Speers der Nation“. Sein Auftraggeber: ein Ex-Abgeordneter der Kon­serwatiewe Party. Das Ziel: den hochsensiblen Verhandlungsprozess für das Ende der Apartheid zu torpedieren.

Mandelas Nachfolger können Niveau nicht halten

Die Townships kochen vor Wut, bereit loszuschlagen; 70 Menschen sterben binnen zwei Tagen. Mandela eilt nach Johannesburg und wendet sich in mehreren TV-Ansprachen an das Volk, beschwört Frieden. Er zieht alle Register – vielleicht Mandelas größte Stunde. Sein Appell: Hani sei ein Soldat gewesen, dem Disziplin über alles ging. Wer sich nun undiszipliniert zeige und von seiner Wut hinreißen lasse, beflecke Hanis Andenken und Lebenswerk.
Erzbischof Tutu sagte in der Rückschau: „Wäre Mandela nicht im Fernsehen und Radio aufgetreten, wäre unser Land in Flammen aufgegangen.“ Es mag am Ende als ein historischer Glücksfall durchgehen, dass die Gewalt nicht zum Scheitern des Friedensprozesses führte. Nach den ersten freien Wahlen 1994 übergab de Klerk die Macht an Mandela; beide erhielten 1993 den Friedensnobelpreis.
Mandela vollbrachte politische Wunder, verschaffte Südafrika neue Sympathiewerte und einen Vertrauensvorschuss in der Welt. Doch seine Nachfolger Thabo Mbeki und Jacob Zuma konnten das Niveau nicht halten. Der zweite Anzug des ANC, wenn auch maßgeschneidert, passte nicht. Südafrikas wirtschaftlicher Anschluss an die Länder des Nordens – und der meisten Schwarzen an die Mittelschicht – misslang; auch weil die Regenbogennation, das gemeinschaftliche Südafrika von Schwarz, Weiß und Coloured, in die Sackgasse geriet. Gewalt, Kriminalität, Korruption, Diskriminierung und Auswanderung der ehemaligen weißen Führungsschicht: nur einige Schlaglichter auf die wachsenden Probleme einer Nation, in der viele schon ein Erfolgsmodell für ganz Afrika sahen.
Seit Februar ist nun Cyril Ramaphosa am Ruder, ewiger Hoffnungsträger und politischer Ziehsohn Mandelas. Schon seit Jahren in hohen Ämtern und dabei leidlich ohne Skandale ausgekommen, muss der 65-Jährige erst noch beweisen, dass er das Steuer rumreißen kann.
Den „Mandela-Tag“ am 18. Juli, der traditionell landesweit mit ehrenamtlichem Engagement aller Südafrikaner begangen wird, wird Ramaphosa nutzen, um sich als der wahre Erbe „Madibas“ zu stilisieren. Hoffentlich aber auch, um im Land ein wenig von dem Aufbruchsgeist der 90er Jahre heraufzubeschwören.

Buchtipps: Stephan Bierling: Nelson Mandela – Rebell, Häftling, Präsident. C. H. Beck Verlag, 416 Seiten, 24,95 Euro. Nelson Mandelas Autobiographie als Hörbuch, gelesen von Thomas Balou Martin, der Hörverlag, 3 mp3-CDs, Spieldauer 28 h 41 min, 20 Euro.