Dieser bittere Schritt fällt Annette Kurschus nicht leicht: Sichtbar aufgewühlt, mit teils feuchten Augen und stockender Stimme, gibt sie ihren Rücktritt als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der westfälischen Kirche bekannt. Zwei Ämter, die sie „mit Leidenschaft und mit Herzblut“ ausfüllte: „Aus dem Evangelium heraus meine Stimme zu erheben, das habe ich geliebt“, sagt sie vor der versammelten Presse. Aber das öffentliche Vertrauen in ihre Person habe Schaden genommen und sie wolle nun Schaden von ihrer Kirche abwenden.
Es trifft die 60-jährige Theologin ins Mark, dass ihre Glaubwürdigkeit ausgerechnet in dem Bereich angezweifelt wird, den sie vor zwei Jahren nach ihrer Wahl zur EKD-Ratsvorsitzenden zur „Chefinnensache“ erklärte: die Aufklärung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt in der Kirche. Doch die Debatte um ihre Person müssen aufhören und es müsse wieder um die Betroffenen und das ihnen geschehene Unrecht gehen.
Zum Verhängnis wurde Kurschus der kürzlich bekannt gewordene Missbrauchsverdacht gegen einen Mann im früheren Kirchenkreis Siegen, mit dessen Familie sie lange befreundet war und der junge Männer sexuell bedrängt haben soll. Nach eigenen Angaben erfuhr Kurschus erst durch eine anonyme Strafanzeige Anfang dieses Jahres von diesen Beschuldigungen. Die „Siegener Zeitung“ zitierte dagegen zwei Zeugen, die erklärten, Kurschus sei bereits Ende der 90er Jahre in einem Gespräch in ihrem Garten von mehreren Personen über die Vorwürfe gegen den früheren Kirchenmitarbeiter informiert worden.
Ihre späte und defensive Kommunikation begründet Kurschus mit dem Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten und seiner Familie, das sie schützen wollte – dies werde ihr nun als mangelnde Transparenz ausgelegt. Im pietistischen Siegen war Kurschus, die in Rotenburg an der Fulda geboren wurde und in einem Pastorenhaushalt aufwuchs, ab 1993 als Gemeindepfarrerin und ab 2005 als Superintendentin des Kirchenkreises tätig, bevor sie 2011 als erste Frau an die Spitze der westfälischen Kirche gewählt wurde. Damals habe sie „allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen“ und kein Missbrauchsverhalten, beteuert sie.
Zur EKD-Ratsvorsitzenden wurde Kurschus 2021 mit 90 Prozent der Stimmen gewählt. „Für den Vorsitz im Rat braucht es den klaren Auftrag und einen starken Rückhalt der Synode“, sagte sie damals dem Evangelischen Pressedienst (epd). Angesichts der Brisanz des Missbrauchsthemas für die Kirchen und der zögerlichen Kommunikation im Fall Siegen schmolz der einst so starke Rückhalt für Kurschus in den vergangenen Tagen immer mehr dahin und die öffentliche Debatte nötigte sie letztlich zum Rücktritt.
Schwer fiel der reformierten Theologin vor allem der Rücktritt als Präses ihrer westfälischen Kirche, in der sie großen Rückhalt hatte – die Landessynode wählte sie 2019 mit 93 Prozent für eine zweite Amtszeit von acht Jahren zur Präses. Nach zwei Jahren an der EKD-Spitze schien es zuletzt, als habe Kurschus auch dort ihr Profil gefunden und sei endgültig aus dem Schatten ihres medial äußerst präsenten Vorgängers Heinrich Bedford-Strohm getreten.
Fest verwurzelt in ihrem Glauben, der Richtschnur und Grundnahrung für das Funktionieren der Gesellschaft sei, stellte die 60-Jährige mit überwiegend leisen Tönen und feinfühliger Sprache kontinuierlich biblische Bezüge zu aktuellen Fragen her: Sie wandte sich entschieden gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus, trat für mehr Klimaschutz ein und kritisierte vehement die Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge. Forderungen nach einer Obergrenze bei der Aufnahme von Menschen kritisierte sie kürzlich als „populistische Nebelkerze“, die Äußerungen von CDU-Chef Friedrich Merz zu Zahnbehandlungen für Asylbewerber nannte sie „brandgefährlich“ für die Stimmung im Land.
Viel Anerkennung erhielt Kurschus für ihre charismatischen und teils brillanten Reden und Predigten. In Erinnerung ist etwa ihre einfühlsame Predigt im Kölner Dom 2015 nach dem Germanwings-Absturz, bei dem 150 Menschen starben. Ihre Redekunst wurde 2019 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Münster und 2021 mit dem Ökumenischen Predigtpreis gewürdigt. In ihre Amtszeit als westfälische Präses fielen unter anderem Entscheidungen der Landeskirche für die weitgehende Gleichstellung homosexueller Paare, eine Stärkung des Pfarrdienstes – und die Aufarbeitung von Missbrauch.
Dieses „Chefinnen-Thema“ kann Kurschus nun nicht mehr vorantreiben. Sie könne ihren Dienst nicht tun, wenn ihre Aufrichtigkeit öffentlich angezweifelt werde, sagt sie beim Abschied von ihren Leitungsämtern. „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber ich gehe getrost und aufrecht.“