Herr Stäblein, das Gedenkjahr 2020 zu 30 Jahren Wiedervereinigung ist zu Ende. Welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie für den demokratischen Zusammenhalt von Ost und West in Deutschland?
Die problematischen Anteile des Zusammenwachsens gerade im ersten Jahrzehnt nach der Friedlichen Revolution sind noch nicht aufgearbeitet worden. Wir brauchen mehr offenes Gespräch und Austausch über eine Zeit, in der sich die Menschen in Ostdeutschland im Prozess der Vereinigung mehrheitlich nicht als wahrgenommen erlebt haben. Die unterschiedlichen Biografien differenziert und in ihrem Eigenwert wahrnehmen heißt auch, dass wir aufhören müssen, die westdeutsche Biografie als „normal“, die ostdeutsche demgegenüber als Abweichung davon zu behandeln.
Es gibt noch viele Ungerechtigkeiten in der Wahrnehmung und Aufarbeitung unserer Geschichte von Menschen aus Ostdeutschland. Dieses belastet den Zusammenhalt und ist auch eine Hypothek für die demokratische Weiterentwicklung des Landes. Demokratie kann nur erfolgreich sein, wenn sie offene Debatten über gesellschaftliche Gerechtigkeit ermöglicht. Andernfalls zerfällt die gemeinschaftliche Basis, das erleben wir derzeit immer wieder. Extremistischen Kräften gelingt es, Spaltungstendenzen in das Zusammenleben von Ost und West zu setzen.
Welche Rolle kann die Kirche dabei spielen?
Wir haben nicht nur zu den bereits zurückliegenden Erinnerungsdaten die Kirchenräume für notwendige Diskurse und Gespräche geöffnet, sondern werden dies auch weiterhin tun, auch zur Rolle der Kirche in der Friedlichen Revolution. Im Raum der Kirche sind solche Diskussionen stets umfangen von der Zusage eines Gottes, unter der Spannungen und Differenzen, auch unversöhnliche, ausgehalten werden können. Und schon im Zuhören und Aushalten verändern sich die Spannungen, sie lösen sich ein Stück. Darauf jedenfalls setze ich.
Bundespräsident Steinmeier hat sich für einen herausgehobenen Erinnerungsort an die Demokratie- und Bürgerrechtsbewegung der DDR ausgesprochen, einen Ort, „der daran erinnert, dass die Ostdeutschen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und sich selbst befreit haben“. Sie befürworten das. Was genau wünschen Sie sich?
Einen festen Ort, an dem die Erinnerung an die Friedliche Revolution, besonders an die „friedlichen Revolutionär*innen“, ihren Platz hat. Das Gedenken an die Opfer der Mauer findet an der Bernauer Straße statt, für die Einheit kommt die Einheitswippe in Schlossnähe. Aber einen prominenten und öffentlichen Ort für die Erinnerung an die Menschen der Friedlichen Revolution gibt es in der Hauptstadt noch nicht. Das sollten wir ändern.
Welcher Ort, der mit der Weimarer Nationalversammlung und der Frankfurter Paulskirche als Symbol der Freiheitsbewegung von 1848 vergleichbar wäre, könnte so ein Erinnerungsort sein?
Die Gethsemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg wäre ein sehr guter Ort. Oder auch die Zionskirche mit den ehemaligen Räumlichkeiten der Umweltbibliothek in der Nähe. Beides sind Orte, die zentral für die Bewegung der Friedlichen Revolution stehen. Die Gethsemane-Kirche trägt auch heute die Impulse der Friedlichen Revolution sehr lebendig weiter, ich denke etwa an die täglichen Gebete für Peter Steudtner in der Zeit seiner Inhaftierung.
Welche Persönlichkeiten sollten dort gewürdigt werden?
Öffentlich bekannt gewordene Persönlichkeiten der Friedlichen Revolution wie auch Personen, von denen weniger gehört und geschrieben wurde, deren persönliche, zum Teil auch tragische Geschichten es nicht namentlich in die Geschichtsbücher geschafft haben. Wie es gelingen kann, der Erinnerung Gesichter zu geben, zeigt in besonderer Weise die Stiftung Aufarbeitung. Vor einigen Monaten ist Hans Simon gestorben. Er war in den 1980er Jahren Pfarrer in der Zionskirche und eine zentrale Persönlichkeit in den Auseinandersetzungen um die Umweltbibliothek. Ich stelle mir vor, dass Menschen wie Hans Simon mit einem solchen Gedenkort endlich auch ihren Platz in der Geschichte bekommen. Wir verdanken ihnen viel.
Es gibt auch einstige DDR-Bürgerrechtler, die heute am rechten Rand der Gesellschaft aktiv sind und keine Berührungsängste zu rechten Extremisten zu haben scheinen. Wie erklären Sie sich das?