Eine 15-Jährige aus Deutschland, die ohne Vater aufwuchs, findet dessen Identität heraus und reist nach Norditalien, um ihren Erzeuger mit seinen Versäumnissen zu konfrontieren.
Männer sind feige, finden zumindest viele Frauen. Jedenfalls erfüllen manche ihre Pflichten gegenüber dem Nachwuchs nicht immer so, wie sie es sollten. Was für Spuren das bei Kindern hinterlässt, untersucht auf sehr erfrischende Weise der Film “Paternal Leave – Drei Tage am Meer” von Alissa Jung.
Die 15-jährige Leo (Juli Grabenhenrich) aus Berlin ist bei ihrer Mutter aufgewachsen; der Vater war nie ein Thema. Doch Jugendliche forschen ab einem gewissen Alter nach ihren Wurzeln. So entdeckt Leo ein Video ihres Erzeugers auf Youtube. Sie erfährt, dass er Paolo (Luca Marinelli) heißt und will ihn kennenlernen. Also täuscht sie eine Übernachtung bei einer Freundin vor und besteigt kurzerhand den Zug gen Süden. Bei windig-kalten Wetter landet sie in Norditalien an einem Ort, der bereits im Dunkeln liegt. In seiner von Dünen umgebenen Hütte am Meer gewährt der nichts ahnende Paolo ihr Eintritt. Doch Leos Timing könnte nicht schlechter sein, da Paolo sich gerade um seine kleine Tochter Emilia kümmern muss. So ist der Enddreißiger mehr als überrumpelt, als Leo ihn zu später Stunde vor vollendete Tatsachen stellt.
Rücksicht nimmt sie dabei nicht. Sie ist auf eine sehr deutsche Weise direkt und würde am ersten Abend schon gerne Antworten bekommen. Deshalb konfrontiert sie Paolo mit einem Fragenkatalog. Am nächsten Morgen fremdeln die beiden miteinander. Leo schließt Freundschaft mit dem Teenager Edoardo (Arturo Gabbriellini), während Paolo sich im Verleugnen seiner ersten Tochter übt. Der Mutter von Emilia will er Leos Identität nicht verraten, genauso wenig wie anderen Menschen, denen die beiden begegnen.
Der Film erzählt vom Zusammentreffen zweier grundverschiedener Charaktere. Paolo windet sich ständig aus seiner Verantwortung, während Leo Dinge forsch angeht. Zwar war der Zeitpunkt ihres Zusammentreffens ungünstig, doch wann wäre er schon passend gewesen? Leo hat 15 Jahre lang der Vater gefehlt, doch eine Entschuldigung erhält sie nicht, nur Ausreden. Voller Wut und Wehmut muss Leo ansehen, wie Paolo sich um die kleine Emilia, seine “offizielle” Tochter, kümmert – Momente der Innigkeit, die sie mit ihrem Vater nie erlebt hat. Mit kleinen Racheaktionen macht sie auf sich aufmerksam. Sie will sich ein Stück verlorener Kindheit zurückholen und weiß doch, dass dies nicht fruchtet.
Dennoch erscheint die 15-Jährige reifer als ihr Vater. Sie spricht Dinge an, während er verdrängt und abwiegelt. Der Mangel an Nähe wird auch durch ihre Sprache deutlich: Sie sprechen Englisch miteinander, das Paolo nicht besonders gut beherrscht; ihre Gefühle können sie deshalb weniger gut ausdrücken als in ihrer jeweiligen Muttersprache.
Ein paar Momente lang entsteht tatsächlich so etwas wie Vertrautheit zwischen Vater und Tochter, doch die währt nicht lange, als Leo bemerkt, dass ihre Wünsche und die Realität sehr weit auseinanderklaffen. Paolo kocht gleich nach ihrer Ankunft Pasta für sie. Einmal gehen sie zusammen surfen, wobei sich Paolo zum ersten Mal als Lehrer, sprich: als Erzieher seiner Tochter auszeichnet.
“Paternal Leave” zeichnet die italienische Küste nicht als sonnendurchflutetes Paradies, sondern als rauen, unwirtlichen Ort, an dem Gefahren lauern. Trotzdem findet Leo dort Anschluss. In der Freundschaft mit Edoardo finden sich zwei Verstoßene, die das Leben mit Galgenhumor nehmen.
Am Beispiel von Edoardos Familienleben zeigt der Film zugleich, dass gemeinsame Gene kein Garant für ein harmonisches Zusammenleben sind. Blutsbande lassen sich dennoch nicht verleugnen, trotz des Mangels an gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen: Leo und Paolo haben dieselbe Allergie. So erscheint Leo als Botin aus Paolos unrühmlicher Vergangenheit, rüttelt ihn wach und lässt ihn zumindest ansatzweise über Versäumnisse nachdenken.
Der Film lebt vom Zusammenspiel seiner Hauptdarsteller. Während Luca Marinelli als Paolo seine Verwirrung und Überforderung vor allem in Mimik und Gestik packt, kann Juli Grabenhenrich die Wut ihrer Figur auch verbal herauslassen. Die beiden Figuren tasten sich mit Blicken ab, liefern sich trotzige Wortduelle und sind sich in ihrer Dickköpfigkeit doch ähnlicher, als sie zugeben würden. Auch der Titel des Films, “Paternal Leave”, erfreut mit seiner Mehrdeutigkeit und übersetzt so den Zwiespalt in der Beziehung von Tochter und Vater. “Paternal Leave”, eine Variation des Terminus “Parental Leave”, bedeutet eigentlich Elternzeit beziehungsweise Vaterzeit. Doch auch die Aktion des Verlassens schwingt darin mit.