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Späte Erkenntnis

Die Kirchen haben über Jahrhunderte zur Judenfeindschaft beigetragen. Heute sucht die Theologie nach Wegen zum Verständnis

An dem unfassbaren Verbrechen des Holocaust waren auch Christinnen und Christen beteiligt. Sie unterstützten die Ermordung ihrer Nachbarn durch Wegschauen, durch stille Billigung oder sogar durch aktives Mitmachen. Das ist seit Langem bekannt. Aber wie konnte es nur dazu kommen, dass Kirchen und Gläubige alle christlichen Maßstäbe verloren, alle Gebote der Barmherzigkeit und Nächstenliebe außer Acht ließen? Eine Antwort auf diese Frage gibt es bis heute nicht.

Die Kirchen schürten die Judenverachtung

Einig sind sich Historiker und Theologen allerdings darin, dass sich die christliche Judenfeindschaft über Jahrhunderte zu einer selbstverständlichen Grundhaltung verfestigte, die den fanatischen Antisemitismus der Nationalsozialisten beeinflusste und begünstigte. Als sich herausstellte, welch vernichtende Ausmaße der Judenhass in Deutschland ab 1933 annahm, hatten die Kirchen dem Hass wenig bis nichts entgegenzusetzen. Sie selbst waren es ja, die die Ressentiments und die Verachtung gegenüber dem Volk des „alten Bundes“ immer weiter tradiert hatten. Dass „die Juden“ zum Sinnbild für „die Anderen“ geworden waren, die verachtet und ausgegrenzt werden durften, lag vor allem an den ständig wiederholten Predigten über die angebliche jüdische Verstocktheit und den Verrat an Jesus.
Ihren Ursprung hat die Haltung in den Auseinandersetzungen des späten 1. Jahrhunderts nach Christus. In dieser Zeit trennte sich die Splittergruppe der jesusgläubigen Juden von der jüdischen Hauptströmung und begann, sich selbst als das neue, wahre Gottesvolk zu begreifen. Spuren dieser Auseinandersetzungen finden sich im Neuen Testament: Paulus‘ Überlegungen über den alten und neuen Bund, die Streitgespräche Jesu mit „den Juden“ oder „den Pharisäern“, und schließlich die Forderung der Menge vor Pilatus: „Lass ihn kreuzigen“. Dass diese Texte aus der einseitigen Perspektive der um Anerkennung und Vergewisserung kämpfenden Jesus-Gruppe erzählt wurden, kam erst nach der Katastrophe der Shoa allmählich in den Blick der theologischen Forschung.
Bis zu der Erkenntnis, dass das Judentum mehr ist als eine „Gesetzesreligion“, die in der angeblichen „Liebesreligion“ des Christentums überwunden ist, dauerte es allerdings Jahrzehnte nach 1945. Noch bis in die 1990er Jahre lernte man im Konfirmandenunterricht, was etwa der einflussreiche Theologe Rudolf Bultmann behauptet hatte: Jesus stamme zwar aus dem Judentum, habe dessen Begrenztheiten jedoch radikal überwunden und etwas gänzlich Neues hergebracht.
Im Licht des jüdisch-christlichen Dialogs nach 1945 ließ sich das nicht mehr halten. Und so begannen Engagierte, in Gemeindegruppen, beim Kirchentag und auf der Ebene der Universitäten nach neuen Verständnismöglichkeiten zu fragen.
Alttestamentler arbeiteten etwa heraus, dass der angebliche Gegensatz von Gesetz und Evangelium nicht existiert, weil Gott sich schon im Alten Testament als derjenige offenbart, der gerecht macht. Die Rechtfertigung des Sünders ist also keine Erfindung des Neuen Testaments; schon im Alten Testament wird davon erzählt, dass Gott die Menschen gnädig wieder aufnimmt, die aus eigener Schuld den Bund gebrochen haben. Für das Neue Testament hat zum Beispiel der Bochumer Theologe Klaus Wengst gezeigt, wie die scheinbar antijüdischen Ressentiments, die das Johannesevangelium durchziehen, aus der aktuellen Situation einer bedrängten Gemeinde heraus verstanden werden können. Und der israelische Schriftsteller Amos Oz vertrat die Meinung, dass die Figur des Verräters Judas erst nachträglich in die Passionsgeschichte eingefügt wurde, um „den Juden“ die Schuld am Tod Jesu aufzubürden.

Eine Religion ohne Defizite

Inzwischen heißt der Konsens in der theologischen Forschung wie auch in den Kirchen: Das Judentum darf nicht als eine Religion mit Defizit gegenüber dem Christentum verstanden werden. Der „Rheinische Synodalbeschluss“ von 1980 ist das erste Dokument von evangelischer Seite, das deutlich formuliert: Das Judentum wurde keineswegs durch das Christentum „abgelöst“ oder ersetzt. Vielmehr bleibt die Erwählung des jüdischen Volkes durch Gott ohne Abstriche bestehen. Gottes Geschichte mit Israel läuft parallel zu seiner Geschichte mit den christlichen Kirchen und ist dieser absolut gleichwertig.  
Allgemein anerkannt ist auch, dass das Alte Testament – die jüdische Bibel – für Christinnen und Christen unverzichtbar ist. Der Bielefelder Alttestamentler Frank Crüsemann hat für das Alte Testament den Begriff des „Wahrheitsraums“ geprägt, in dem das Neue Testament mit all seinen Anknüpfungen und Rückgriffen überhaupt erst verständlich wird. In den Geschichten des AT wird der Glaube an Gott in seinen vielen Facetten lebendig.
Für die Person Jesu gilt: Er war Jude, lebte in den Glaubenstraditionen des Judentums und verstand sich als Jude. Er verbindet das Christentum mit dem Judentum – und trennt gleichzeitig beide voneinander. Durch sein Leben und vor allem durch die universale Hoffnung seiner Auferstehung hat er den Bund Gottes auch für „die Völker“, also die Nicht-Juden, geöffnet.
Viele Fragen im jüdisch-christlichen Dialog sind noch ungelöst. Was genau kann etwa der Kreuzestod Jesu in diesem Zusammenhang bedeuten? Und wie steht das heutige Judentum zur Person Jesu? Der gemeinsame Weg der beiden so eng miteinander verbundenen Religionen bleibt spannend.