Ein ungeborenes Kind könnte mit schwerer Behinderung zur Welt kommen: In solchen Fällen ist ein Abbruch auch in der späten Phase einer Schwangerschaft möglich. Eine Frau erzählt von ihrer schweren Entscheidung.
Als sie die Telefonnummer ihrer Frauenärztin auf dem Handy sieht, weiß Carolin, dass etwas passiert ist. Es liege Trisomie 21 vor, vermutlich auch das Klinefelter-Syndrom, ein weiterer Gendefekt, teilt ihr die Ärztin mit. “Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen”, sagt Carolin, die eigentlich anders heißt, in dieser Geschichte aber anonym bleiben soll.
Die Mannheimerin hat bereits zwei Kinder, beide sind gesund. Es gab keinen Grund zu glauben, dass es beim dritten anders sein könnte. Trotzdem hat sie den Bluttest gemacht. Er wird seit zwei Jahren von den Krankenkassen bezahlt und kann auf Basis von Wahrscheinlichkeiten mögliche genetische Abweichungen beim ungeborenen Kind aufzeigen. Carolin ist 40 Jahre alt und lebt vom Vater ihrer Kinder getrennt. Sie wollte einfach sichergehen.
“Hast du überhaupt die Kraft für ein drittes Kind?”, hatten Freunde sie schon zuvor gefragt. Mit dem Mann, von dem das Kind war, würde sie nicht zusammenbleiben – das war klar. Das Kind wollte sie trotzdem. “Es war ein Wunschkind”, sagt sie. Doch nun hat das Wunschkind zwei Gendefekte, und ihre Freunde drängen: “Das kannst du nicht bekommen.” Carolin aber will das Kind nicht aufgeben.
“Ich habe jeden Podcast gehört, den es zum Thema Trisomien gibt, jedes Buch gelesen”, berichtet sie. Morgens wollte sie das Kind behalten, abends wollte sie es abtreiben. Fünf Wochen lang ging das so, sie habe kaum geschlafen und die Frage hin- und hergewälzt: Schaffe ich ein Leben mit einem schwerbehinderten Kind? Was bedeutet das für die Geschwister? “Da war eine große Traurigkeit und ein großes Schuldgefühl: Wer bist du, dass du dir anmaßt, über Leben und Tod zu entscheiden?”
Bei ihren ersten beiden Schwangerschaften wollte Carolin keine Pränataldiagnostik, keine Nackenfaltenmessung, keinen Bluttest. Die Verfahren gefährden die Frau und das werdende Kind zwar nicht – sie können jedoch falsch positive oder auch falsch negative Ergebnisse liefern. Ein negativer Befund heißt nicht, dass nicht doch Anomalien vorliegen, und ein positiver Befund kann sich später als Irrtum herausstellen, das Kind vollkommen gesund sein. Um sicherzugehen, sind weitere Untersuchungen notwendig, etwa eine Fruchtwasseruntersuchung.
“Ich war damals in einer stabilen Beziehung, wir haben uns bewusst gegen alle vorgeburtlichen Untersuchungen, die über den normalen Standard hinausgehen, entschieden”, erinnert sich Carolin. Beim dritten Mal ist das nun anders. Sie hat keinen festen Partner, dafür einen Job und zwei kleine Kinder. Außerdem gilt sie mit 40 als Risikoschwangere. Mit jedem Lebensjahr einer Frau steigt die Gefahr für Komplikationen und Chromosomenstörungen beim Kind.
Nach dem Befund des Bluttests verweist Carolins Frauenärztin sie an einen Pränataldiagnostiker. Der bestätigt das Ergebnis. Sie ist aufgelöst. Der Mediziner sagt: “Hängen Sie die Moral nicht zu hoch.” Aber Carolin denkt, dass ihr das Schicksal dieses Kind auferlegt hat – das muss sie jetzt tragen. So sei sie erzogen worden: “Bei meinen Eltern gab es kein Aufgeben.” Sie sucht das Gespräch mit einem Seelsorger im Krankenhaus. Er findet, es sei in Ordnung, auch Grenzen festzustellen: “Er hat den Fokus auf mich gerichtet und gesehen, was ich im Alltag stemmen musste.”
Laut juristischer Frist ab der 13., medizinisch oft erst ab der 20. Woche gilt ein Schwangerschaftsabbruch als Spätabtreibung. 3.173 solcher Abbrüche gab es im vergangenen Jahr in Deutschland. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission fordert eine Neubewertung von Spätabtreibungen. Ein genereller Maßstab, ab wann die Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar sei, lasse sich nicht aufstellen; dies hänge vom Einzelfall ab.
Carolin entscheidet sich in der 17. Woche für einen Abbruch. Nur wenige Krankenhäuser führen Abtreibungen nach der zwölften Schwangerschaftswoche durch. In der Frühphase erfolgen Abbrüche medikamentös oder operativ, das ungeborene Kind wird samt Fruchtwasser und Plazenta abgesaugt oder ausgeschabt. Ist die Schwangerschaft weiter fortgeschritten, muss die Frau das Kind in der Regel zur Welt bringen. Die Geburt wird künstlich eingeleitet, der Fötus überlebt diese Prozedur nicht.
Dafür muss Carolin – unter ärztlicher Aufsicht – eine Tablette nehmen, dann 24 Stunden zu Hause warten, ehe sie für die Geburt im Krankenhaus stationär aufgenommen wird. Als ihr die Krankenschwester die erste Tablette in die Hand legt, rennt sie aus dem Behandlungszimmer. Sie sagt: “Ich kann das nicht.” Sie bittet, dass der Krankenhausseelsorger dabei ist. Der habe gesagt: “Wir geben das Baby in Jesu Hände.” Sie nimmt die Tablette, geht nach Hause, wartet.
Am nächsten Tag kehrt sie ins Klinikum zurück. Eine Pflegekraft gibt ihr die Wehen auslösenden Medikamente. Nach vier Stunden ist Luke auf der Welt. Vor dem Moment, da sie ihr Kind zum ersten Mal sehen würde, habe sie große Angst gehabt. Doch sie sagt: “Es war das schönste Baby, das man haben kann.” Luke ist 18 Zentimeter groß, hat Arme, Beine und winzig kleine Fingernägel. Der Seelsorger segnet das tote Kind, eine Pflegekraft bringt ein Körbchen, Luke wird dort hineingelegt.
Dann dürfen die Geschwister kommen. Carolin wollte, dass die Kinder den toten Bruder sehen. Sie wollte nicht ohne Bauch und ohne Baby nach Hause kommen. Eine Beraterin der Informations- und Vernetzungsstelle PND, die sich in Trägerschaft des Sozialdiensts katholischer Frauen (SkF) in Mannheim befindet, hatte sie in dem Wunsch unterstützt. “Den Kindern hätte sonst ein Zeitabschnitt gefehlt, sie wussten ja, dass ich schwanger bin, und sie freuten sich.”
Also kommen die Kinder und streicheln das Baby im Körbchen. Ihr jüngstes Kind habe gesagt: “Guck, jetzt ist er auf der Welt und kann an deiner Brust trinken, dann wird er groß.” Doch Carolin sagt: “Er war zu krank, er hat es nicht geschafft.”
Eine Fotografin macht Aufnahmen von diesen Momenten. Auch dazu hatte sie die Beraterin ermuntert. “Ich dachte, was habe ich schon für Rechte, schließlich bin ich es, die das Leben des Kindes beendet.” Doch die Beraterin widerspricht und betont, dass Carolin die Erinnerungsfotos zustehen. Sie habe eine Schwangerschaft erlebt und eine Geburt. Und der Verlust sei genauso groß, wie wenn das Kind von selbst gegangen wäre. Carolin ergänzt, es sei nicht leicht gewesen, an Informationen zu kommen, zu wissen, was die nächsten Schritte nach der Diagnose sind, zu erfahren, dass ihr eine Hebamme zusteht und es Rückbildungskurse gibt für Mütter, die einen späten Abbruch vorgenommen haben. “Niemand spricht über das Thema.”
Vor ein paar Wochen wurde Luke bestattet. Seit 2013 können in Deutschland alle Eltern ihre Sternenkinder – die noch im Mutterleib, unter der Geburt oder kurz danach gestorben sind – beim Standesamt anzeigen. Auch die Bestattung eines tot geborenen Kindes ist möglich, ab einem Geburtsgewicht von 500 Gramm ist sie sogar Pflicht.
Luke hat das Ohr eines Teddybären mit ins Grab bekommen, der restliche Teddy sitzt zu Hause im Kinderzimmer der Geschwister. Während der Trauerfeier habe sie zum ersten Mal Erleichterung verspürt, sagt Carolin. “Es war beruhigend zu wissen, dass es so viele Menschen gibt, die um ein Kind, das sie sich so sehr gewünscht haben, trauern.”