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Soziologe: Thema Missbrauch ist kaum noch skandalträchtig

Der Religionssoziologe Detlef Pollack sieht zurzeit keinen Effekt von Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche auf die Kirchenaustrittszahlen. „Die Skandalträchtigkeit des Themas ist weitgehend verbraucht“, sagte der Forscher der Universität Münster dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Nach früher bekannt gewordenen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hätten viele Menschen kaum noch Erwartungen an die Kirchen gehabt, die somit auch nicht enttäuscht werden konnten, vermutete Pollack: „Ich kann mir vorstellen, dass das Teil der Erklärung ist.“ Zwischen evangelischer und katholischer Kirche differenzierten viele, vor allem kirchendistanzierte Menschen nicht.

Besonders Kirchenmitglieder räumten der evangelischen Kirche hingegen noch ein Vorschussvertrauen ein, sagte der Soziologe: „Es haben sogar Katholiken im Durchschnitt mehr Vertrauen in die evangelische Kirche als in die eigene.“ Auch in der Durchschnittsbevölkerung sei das Vertrauen in die evangelische Kirche höher als das in die katholische.

Ob dieses Vertrauen erhalten bleibt, hängt nach Pollacks Worten stark vom Umgang der evangelischen Kirche mit der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirche und der Diakonie ab. Der Umgang der katholischen Kirche mit ihren Missbrauchsfällen sei in dieser Hinsicht ein warnendes Beispiel. In der Öffentlichkeit sei nicht der Eindruck entstanden, dass es den Bischöfen um schonungslose Aufklärung gehe. Sollte die evangelische Kirche hier nicht wesentlich besser agieren, könnte die Studie doch noch für höhere Austrittszahlen sorgen.

Ende Januar hatte ein unabhängiges Forschungsteam die ForuM-Studie vorgestellt. Es geht darin von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern aus, vermutet aber eine deutlich höhere Dunkelziffer.

Pollack warnte davor, zu glauben, dass die Austrittszahlen irgendwann sinken würden, wenn alle Austrittswilligen ausgetreten seien. Je mehr evangelische und katholische Christen zu einer Minderheit würden, desto stärker werde der Sog der Mehrheit. „Wer zu einer Mehrheit gehört, muss sich dafür in der Regel nicht rechtfertigen“, sagte er. Wer Teil einer Minderheit sei, schon. Es hänge vom Stellenwert ab, den Religion für den Einzelnen habe, ob er sich dafür rechtfertigen wolle. Der durchschnittliche Stellenwert von Religion in der heutigen Gesellschaft sei aber gering.