Der Sozialforscher Klaus Hurrelmann vergleicht die aktuelle Stimmungslage in der deutschen Gesellschaft mit einer posttraumatischen Belastungsstörung infolge der Corona-Pandemie. „Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun“, sagte Hurrelmann der Berliner Tageszeitung taz. Die Menschen bräuchten jetzt eigentlich Ruhe. „Aber stattdessen stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung“, sagte Hurrelmann, Professor an der Berliner Hertie School. Auch diese Krisen könnten von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. „Es ist die nächste Überforderung“, konstatierte der Wissenschaftler.
Immer mehr Verschwörungserzählungen
Eine Folge sei die Zunahme von Verschwörungserzählungen. „Wir verstehen nicht mehr, was eigentlich los ist, weil es über die eigenen Kräfte hinausgeht. Und dann sucht man nach Unterstützung und Entlastung – und eine Verschwörungstheorie zum Beispiel leistet das“, erklärte Hurrelmann. Es gebe Sicherheit, wenn man entgegen der Faktenlage glaube, dass der CIA das Coronavirus erfunden hat oder der Klimawandel nicht menschengemacht ist, man selbst also nichts tun könne.
In dieser Lage brauche es eine „ermutigende und ermächtigende Politik“. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sollte aus Sicht Hurrelmanns „der Bevölkerung endlich anbieten, was sie dringend braucht: ein Gefühl der Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit“. Dementgegen hab die Ampel-Koalition einmal getroffene Vereinbarungen wieder infrage gestellt, „das unterhöhlt jede Glaubwürdigkeit und jede Verlässlichkeit“. „Ich glaube, das ist das Schlimmste, was der Ampel passiert ist“, sagte der Sozialforscher.