Der Politik-Philosoph Jürgen Manemann sieht einen „handfesten Rassismus“ in der deutschen Gesellschaft. Gleichwohl beobachtet der Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover und katholische Theologe im Zuge des zunehmenden Zuzugs von Flüchtlingen insgesamt einen positiven Wertewandel. Im Gespräch mit Karin Wollschläger kritisiert Manemann allerdings, dass die Politik asylfeindliche Ressentiments bediene.
• Herr Professor Manemann, die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte nehmen rasant zu. Wer trägt die Schuld?
Wer die Täter sind, ist häufig schwer nachweisbar. Aber was die Angriffe bezwecken sollen, ist klar: Sie stammen nicht aus Bedrohungsgefühlen. Sie wollen Ängste und Hass schüren. Solche Angriffe verfolgen den Zweck, zu mehr Gewalt zu motivieren. Dazu sind sie natürlich auch auf die mediale Verbreitung angewiesen. Des Weiteren hat Pegida sicherlich einen Teil zu der Aggressivität, die sich gegen Flüchtlinge verbreitet, beigetragen.
• Wo beginnt geistiges Brandstiftertum?
Die Grundfrage der Politik lautet: Wie können wir gut zusammen leben? Diese Frage muss immer neu verhandelt werden. Gefahr droht immer dann, wenn einzelne Menschen oder Gruppen durch Unterschiede gebrandmarkt werden. Zur geistigen Brandstiftung kommt es, wenn diese Stigmatisierung den Zweck verfolgt, sich eigene Vorteile zu verschaffen.
• Lässt sich in der asylfeindlichen Entwicklung ein gesellschaftlicher Wertewandel ablesen?
Es gibt asylfeindliche Tendenzen, ja – aber es gibt viel mehr Solidarität als Feindschaft. Insgesamt haben wir es im Blick auf das Engagement für Flüchtlinge mit einem positiven Wertewandel zu tun. Da hat sich doch etwas in den letzten Jahren verändert, und das sollten wir auch nicht durch die Häufung der Angriffe auf Flüchtlingsheime vergessen. Das wird ja gerade von der Tätern bezweckt. Dennoch gibt es auch in unserer Gesellschaft einen handfesten Rassismus. Dieser muss benannt und bekämpft werden.
• Können Sie das konkretisieren?
Mir scheint vor allem ein sogenannter „Rassismus ohne Rassen“ gegenwärtig stark verbreitet zu sein. Dieser beruft sich nicht mehr plump auf die Überlegenheit einer Rasse über andere, sondern markiert Unvereinbarkeiten verschiedener Lebensweisen: die „sauberen“ Bewohner einer Kleinstadt auf der einen und die angeblich Müll und Krach produzierenden Flüchtlinge auf der anderen Seite. Rassismus ist schwer zu bekämpfen, weil er eine Gestimmtheit darstellt, die nicht durch bloße Informationskampagnen verändert werden kann.
• Sehen Sie auch ein Versagen der Politik?
Ein Versagen der Politik ist darin zu erkennen, dass sie nicht gegen die Ursachen der Asylfeindlichkeit angeht, sondern Ressentiments bedient. Wenn etwa CSU-Chef Horst Seehofer gegenwärtig von „massenhaftem Asylmissbrauch“ spricht und „rigorose Maßnahmen“ fordert, trägt er nicht zur Lösung des Problems bei, sondern zur Verschärfung.
Es geht doch den meisten Pegida-Anhängern nicht um Bedrohungsängste, sondern um Ressentiments. Dabei handelt es sich um verspätete Rache für eine Ernie-
drigung oder Ohnmachtserfahrung, die schon länger zurückliegt. Das heißt: Das Objekt des gegenwärtigen Hasses hat mit der Ursache für das Ressentiment gar nichts zu tun. Politik, die Ressentiments bekämpfen will, muss dieser vergangenen Ursache nachspüren. Aber eine Politik, die selbst Ressentiments bedient, hat natürlich kein Interesse, diese ernsthaft zu bekämpfen.
• Wie meinen Sie das?
Politiker, die jetzt von Missbrauch des Asylrechts sprechen, betreiben eine Interessenpolitik, die nichts mit dem Gemeinwohl zu tun hat. Das ist Populismus. Von Politik sollten wir nur reden, wenn das Handeln auf das Gemeinwohl hin orientiert ist. Wer sich um das Gemeinwohl kümmert, der muss seine Wahrnehmung für die Interessen und Bedürfnisse des Nächsten schärfen. Damit ist hier derjenige gemeint, der auf meine Solidarität angewiesen ist. Der Blick auf das Gemeinwohl, auf das Wohl aller, verlangt deshalb insbesondere, die Interessen von Minderheiten zu berücksichtigen und derjenigen, die überhaupt keine Lobby haben. Ihre Stimmen und ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen, das ist eine der vornehmsten Aufgaben der Kirchen.