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Sicherheitskrise in Chile: Die Hardliner gewinnen an Einfluss

Einst war es ein Randthema rechter Parteien, doch inzwischen vergeht kaum eine Woche, in der Chiles Präsident Gabriel Boric sich nicht zur Sicherheitskrise äußert. Schon länger geht in der einstigen Sicherheitsoase Lateinamerikas die Angst um.

Auch beim Austausch mit Brasiliens Staatschef Ignacio Lula da Silva spielte die Gewalt im Land eine Rolle. Bei dessen Besuch Anfang August vereinbarten die beiden linksgerichteten, reformorientierten Präsidenten ein Abkommen zur vereinfachten Auslieferung von Personen, die im jeweils anderen Land von der Justiz gesucht werden. Boric sprach von einem „Zeichen gegen internationale Kriminalität und für mehr Sicherheit“.

Tatsächlich hat sich die Sicherheitslage in Chile verschlechtert. Einst hatte das Land eine niedrigere Mordrate als die USA. Doch zwischen 2018 und 2022 stieg sie von 4,8 auf 6,7 pro 100.000 Einwohner und überholte damit die USA, wo die Mordrate im Jahr 2022 bei 6,4 lag. Mehr noch als die offiziellen Zahlen ist die Angst gewachsen. In einer repräsentativen Umfrage im Juli gaben 82 Prozent der Befragten an, dass die Kriminalität insgesamt gestiegen sei.

Weit ab vom Regierungspalast, im Viertel San Luis, sitzt der Sozialarbeiter Luis Sepúlveda in einem staatlichen finanzierten sozialen Zentrum. Er wirkt sichtlich betroffen von der steigenden Kriminalität. Das im Westen der Hauptstadt gelegene Viertel wurde von der Militärdiktatur in den 1980er Jahren aus dem Boden gestampft. Es steht häufig im Rampenlicht der Medien, mit Schießereien und als Heimat vieler Krimineller, die in den wohlhabenden Gegenden Autos knacken und in Häuser einbrechen.

Die Anzahl der Waffen in San Luis habe zugenommen, erzählt Sepúlveda. „Ständig sterben Kinder und Jugendliche aufgrund von Schießereien“ – sei es zwischen Drogenbanden oder wegen banaler Nachbarschaftskonflikte.

Ein weiteres Problem sind internationale Banden, die in Chile zunehmend Fuß fassen. Als besonders gefährlich gilt die sogenannte Tren de Aragua, eine kriminelle Organisation, die ihren Ursprung in Venezuela hat und sich laut Polizei mittlerweile in Teilen von Nord-Chile festgesetzt hat. Die Bande finanziert sich laut Medienberichten aus verschiedenen illegalen Geschäften, etwa dem Drogen- und Menschenhandel. Ihr Erkennungszeichen ist die enorme Gewalt, die Organisation wird in Chile für die zunehmende Anzahl von Auftragsmorden verantwortlich gemacht.

Dass sich die Lage verschlechtert, leugnet fast niemand mehr. Auf ultrarechter Seite forderte der ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast massive Verhaftungen, den Einsatz des Militärs und eine weitere Verschärfung der Haftbedingungen in den bereits jetzt überfüllten Gefängnissen. Als Vorbild sieht er dabei das Vorgehen von El Salvadors Präsident Nayib Bukele gegen kriminelle Banden.

Doch nicht nur bei ultrarechten Parteien, auch in der Mitte der Gesellschaft, scheint ein harsches Vorgehen an Popularität zu gewinnen. In einer aktuellen Umfrage gaben 82 Prozent der befragten Chileninnen und Chilenen an, ein positives Bild von Bukele zu haben, der wegen seiner Politik in El Salvador von Menschenrechtlern scharf kritisiert wird.

Politikerinnen und Politiker der Mitte blicken besorgt auf diese Tendenz. „Wir müssen alles daran setzen, mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln, diese Krise zu überwinden“, sagt die Bürgermeisterin der Vorstadtgemeinde Peñalolen, Carolina Leitao. Bis Anfang des Jahres war sie noch Mitglied der Christdemokratischen Partei Chiles. Derzeit zählt sie sich als parteiunabhängig, unterstützt allerdings in vielen politischen Vorhaben Staatschef Boric.

Zurück zu Sepúlveda in San Luis: Der Sozialarbeiter kritisiert, dass sich der Staat mit Beginn der Corona-Pandemie aus den Armenvierteln zurückgezogen habe. „Das hat zu einer enormen Krise geführt.“ Er wäre froh, wenn die ganze Panik rund um Sicherheit anders gelöst würde. Es bräuchte mehr soziale Intervention und weniger Gewaltfantasien gegen mutmaßliche Kriminelle, sagt er.