Die Zuweisung weit entfernter Häfen zur Anlandung geretteter Flüchtlinge durch italienische Behörden verhindert Seenotrettern zufolge hunderte Tage Rettungseinsatz. Die Praxis „erfolgt systematisch und ist politische Taktik – mit tödlichen Konsequenzen“, erklärte die politische Sprecherin von SOS Humanity, Mirka Schäfer, am Donnerstag in Berlin. Nach Berechnungen der Organisation wurden zivile Seenotrettungsschiffe dadurch im vergangenen Jahr 374 Tage von Einsätzen im zentralen Mittelmeer ferngehalten.
Demnach wiesen die Behörden 2023 privaten Seenotrettungsschiffen insgesamt 107-mal einen Hafen zu, der mehr als 600 Kilometer weiter entfernt lag als ein nahegelegener Hafen auf Sizilien. 150.538 zusätzliche Kilometer seien dadurch zusammengekommen.
Die rechtsnationalistische Regierung von Premierministerin Giorgia Meloni hat seit ihrem Amtsantritt Ende 2022 die Regeln für die private Seenotrettung immer mehr verschärft. Zusätzlich zu den weiten Anlandungsfahrten dürfen die Schiffe nach der ersten Rettung keine weiteren Flüchtlinge in Seenot an Bord nehmen, ansonsten werden sie für 20 Tage festgesetzt und mit einer Geldstrafe belegt. Mehrere Organisationen haben gegen diese Regeln 2023 Klage in Italien und eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht.
Nach UN-Angaben kamen 2023 mehr als 3.040 Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben oder werden vermisst. Die Dunkelziffer könnte weitaus höher liegen.
Das Seerecht schreibe vor, dass aus Seenot gerettete Menschen an einen nahegelegenen sicheren Ort gebracht werden müssten, erklärte SOS Humanity. „Die italienische Regierung bricht mit der systematischen Zuweisung von entfernten Häfen für aus Seenot Gerettete EU- und Völkerrecht“, sagte Schäfer. Häufig müssten die Retterinnen und Retter zu den nördlichen oder östlichen Häfen von Ancona, Brindisi, Bari, Civitavecchia, Genua, Ortona oder Ravenna fahren.